Sonntag, 26. November 2017

Regensburg in Der Ochsenkrieg von Ludwig Ganghofer



Der Ochsenkrieg von Ludwig Ganghofer - Text im Projekt Gutenberg
Kapitel 22 f, mit Handlung in Regensburg

  • Der Ochsenkrieg - Roman aus dem 15. Jahrhundert ist ein 1914 erschienener historischer Roman von Ludwig Ganghofer.Der Peter Rosegger in Verehrung gewidmete Roman spielt im Berchtesgadener Land und erzählt die Geschichte des Ramsauer Bauern Runotter und seiner Tochter Jula im Konflikt zwischen dem Kloster Berchtesgaden und den Ramsauer Bauern.
Das Buch ist im Todesjahr 1920 erschienen, spielt aber im Jahr 1420. Ganghofer hatte mehrere historische Romane aus dieser Zeit von 1420 geschrieben, offenbar war er darin bewandert.

Das Buch zeigt nicht nur unglaubliche historische Kenntnisse von bayerischen Geschichte, sondern auch von Regensburg. Das Buch überrascht, weil die trivialen Formulierungen fehlen, wie man sie  in seinen Heimatromanen findet. Es ist ein nüchterner, historisch-beschreibender, eher deprimierender und stellenweise brutaler Roman, der die Sinnlosigkeit des Kriegs (am Beispiel des Bayerischen Kriegs) und die Mühseligkeiten der damaligen Zeit (inkl. Pest und Flüchtlingsproblematik) aufzeigt.

Ich begann ursprünglich nur aus Interesse an der Schilderung Regensburger Orte  zu lesen, mit wenig Erwartungen bezüglich des literarischen Gehalts,  und war dann zu meiner Überraschung tagelang in diesen vier Kapiteln gefangen.


Der Protagonist des Romans (ein gewisser "Malimmes") begibt sich nach der letzten Schlacht im "Bayerischen Krieg" nach Regensburg, wo gerade König Sigismund erwartet wird (und nebenher tausende von Kriegsflüchtlingen vor den versperrten Stadtmauern harren und murren); Regensburg hatte gerade die Schweine durch die Straßen getrieben und auch ansonsten die Stadt festlich geschmückt. man wollte "seinen" König sehen.

König Sigismund war dt. König 1411-1437. König Sigismund erzwang im Oktober  1422 in Regensburg einen vierjährigen Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Parteien des Ochsenkriegs, der soviel Leid verursacht hatte, und der Kulisse für die ersten zwanzig Kapitel des Buchs bildet.


Eigentlich waren es die Parteien des übergeordneten  Bayerischen Kriegs, und diese Parteien treten auch in dem Kapiteln in Regensburg auf:  die miteinander verwandent Herzog Ludwig (Herzog von Bayern-Ingolstadt, manchmal nur Herr Ludwig und manchmal "der Ingolstädter" genannt) einerseits gegen Herzog Heinrich (Herzog von Bayern-Landshut; Bayern war damals in 4 Teile gespalten) andererseits. 

Wenn also von Ludwig oder Heinrich die Rede ist, sind diese Parteien gemeint. Der ebenfalls auftretende "Markgraf", beim ersten Auftauchen noch mit vollem Namen genannt (Friedrich von Zollern), der als Burggraf  von Nürnberg und frisch erkorener Markgraf von Brandenburg bezeichnet wird), ist ein zwischen den Parteien stehender Verwandter; er war bis 1420 wirklich Burggraf von Nürnberg, danach Markgraf von Brandenburg, in Wikipedia auffindbar unter Friedrich I. von Brandenburg.


Diese Zusammenhänge muss man kennen, damit man die Handlung in den letzten Kapiteln versteht. Es kann sein, dass man im Jahre 1920 die beiden Kriege nicht so direkt unterschieden hat.



Ganghofer, der den Roman 1920 schrieb, scheint sehr sehr gute Kenntnisse von den Parteien im Krieg von 1420, deren Verwandschaftsbeziehungen, deren Interessen und Hintergründe gehabt zu haben, wie die Gespräche in den letzten Kapiteln zeigen. Eigentlich dürfte er einen durchschnittlichen Leser überfordern, sofern der keine geschichtlichen Kenntnisse hat. Aber das scheint ihn nicht gekümmert zu haben, jedenfalls erweckt das Buch diesen Eindruck bei mir.

Außerdem hatte er erstaunliche Kenntnisse über die Regensburger Örtlichkeiten des Jahres 1420, die Gepflogenheiten und viele anderen Details. Auch hier beschreibt  er die die Örtlichkeiten mit einer Selbstverständlichkeit, als wenn der Leser aus dem Jahr 1420 und nicht aus 1920 stammt. Selbst ein durchschnittlicher Regensburger, der bei Erscheinen im Jahre 1920 das Buch las, dürfte gerätselt haben, wo das Wallersche Haus, das Gumprechthaus, oder wo das Latron und das dort befindliche Frauenhaus ist.  Denn kaum jemand hatte Zugriff zu den Chroniken von Theodor Gmeiner, einen "Karl Bauer" gab es auch nicht, und im Internet konnte man auch nicht recherchieren.  Ganghofer gibt sich aber keine Mühe, die Örtlichkeiten weiter zu beschreiben, was durchaus einfach gewesen wäre.

Überhaupt: Ganghofer  muss in seiner Gymnasialzeit in Regensburg gute Geschichtskenntnisse über das alte Regensburg erworben haben.

Zur Erklärung der genannten Beispiele: das Latron nannte man das Gebiet südlich der Alten Kapelle (die Kirche am Kornmarkt); dort hatte, laut Theodor Gmeiner, die Stadt ihr offenbar städtisches Bordell an einen Wirt verpachtet. Das Haus der Kaufmannsfamilie Waller war in der Wahlenstraße (beim Goldenen Turm), das Gumprechthaus ist das Haus in der Neue-Waag-Gasse 1, gegenüber der Galerie. Es kommt u.a. noch das Siechenhaus St. Lazarus vor, das im heutigen Stadtpark lag, und auf allen alten Stichen von Regensburg auftaucht. In einer der letzten Szenen schleppt der Protagonist ohne Angst um seine eigene Gesundheit einen am Haidplatz zusammengebrochenen Pestkranken zum Jakobstor, auf dem Weg zum Siechenhaus. Dort wurde er selbst zur Beobachtung festgehalten und starb nach ein paar Tagen.

Dass das zentrale Thema die Sinnlosigkeit des Kriegs ist (der also nicht nur Kulisse für eine persönliche Geschichte sein soll) zeigen die letzten Kapitel immer deutlicher, und in Kapitel 25 gibt es eine interessante Stelle. Dort wollte der König mit dem Volk am Haidplatz den geschlossenen Frieden feiern, als ein einfacher Mann sich protestierend zu Wort meldet; ein Mann, der  zu Beginn der Geschichte vom ausbrechenden Krieg betroffen war, und dies zu Wort bringen will. Der König lässt ihn die Geschichte vortragen, deren Quintessenz lautet:

Siebzehn Ochsen! Siebzehn Ochsen! Und Volk und Reich geschädigt und zerrüttet, die Zeit zurückgeworfen um Jahrzehnte und bedrückt durch blutende Verluste, weite Länder bis zum Grauen verwüstet, Städte zerstört, Burgen gebrochen, zahllose Dörfer in Asche verwandelt, die Münze verschlechtert, alles Gut entwertet, Arbeit und Handel erdrosselt, hunderttausend Menschen verarmt und viele Tausende erschlagen, erwürgt, erstochen, verbrannt, vergiftet von Seuchen, verfault und verstunken! Und siebzehn Ochsen! Siebzehn Ochsen!

Das Buch als Antikriegsbuch? Das ist deshalb erstaunlich, weil sich Ganghofer zu Beginn des 1. Weltkriegs noch patriotisch und kriegerisch geäußert haben soll. Und weil er nicht kriegstauglich war, hat er sich als Kriegsberichterstatter gemeldet und auftragsgemäß zwei Jahre lang berichtet - und zwar in patriotischem Stil, also eher verherrlichend.

Aus einem Brief an seinen Freund Thoma weiß man allerdings, dass er durch die Erlebnisse in dieser Zeit als Kriegsberichterstatter einen Schock bekommen hat, und dieses Thema scheint ihn in späten Jahren, (das Buch erschien 1920, seinem Todesjahr) sehr beschäftigt zu haben. Das sind jedenfalls meine Schlussfolgerungen; Sekundärliteratur zum Ochsenkrieg fand ich auf die Schnelle keine.



Hier ist der Text ab Mitte von Kapitel 22 bis zum Ende des Buchs, also Kapitel 25, entnommen aus "Projekt Gutenberg", wo gemeinfreie (urheberrechtsfreie) Werke zu lesen sind:


Kapitel 22; dort ab Ankunft in Regensburg:


Um die Mittagsstunde, als die Scharen der Wandernden immer dichter
wurden, sah man von einer Waldhöhe in das liebliche Tal der Donau
hinunter, das zärtlich begleitet war von lind geschwungenen Hügeln und
herbstlich gefärbten Buchenwäldern. In ihrer Mitte, wie ein feiner Kern
in der Schale, lag das von Mauern und Wällen umschlossene Dächergewirre
der freien Stadt mit schlanken Kirchturmspitzen und plumpen
Streittürmen.


Ein dumpfes Murren von Bumbardenschüssen und ein sanft verschwommenes Tönen vom Geläute vieler Glocken.


Es war zu der Stunde, in der die edlen Geschlechter und der große und kleine Rat von Regensburg
mit Pomp und Jubel ausrücken wollten, um auf der Nürnberger Straße den
König Sigismund und die Königin Barbara feierlich einzuholen.


Den deutschen König, den Kaiser zu empfangen, hatte die alte,
freie Donaustadt sich schön gemacht mit Gewinden der letzten
Herbstblumen, mit bunten Tüchern und wehenden Fahnen.


In den letzten Nächten hatte man große Schweineherden durch die
Stadt getrieben, damit die braven, für Reinlichkeit sorgenden Tiere
alles verschlingen möchten, was bequeme Bürgersfrauen an üblen Dingen
aus ihren Fenstern auf die Straße zu werfen pflegen. Und was die
Schweine zu entfernen verschmähten, wurde in fleißiger Nachlese von den
ruhelos umherwandernden Buttenknechten gesammelt.




Man hatte das Stadthaus gesäubert und geziert, hatte Trommler
und Ausrufer durch die Stadt geschickt, um die strengen Festtagsgesetze
zu verkünden und das Volk zu gesittetem Verhalten zu ermahnen. In allen
Häusern, die zu Quartieren für hohe Gäste und ihr Hofgesinde bestimmt
waren, hatte man rastlos gefegt und gescheuert, das Silber geputzt und
die Zinngeschirre blankgerieben. Und unter den Betten, in denen die
Fürstlichkeiten ungestörten Schlummer finden sollten, hatte man
Flohfallen aufgestellt und Leimruten für sonstiges Ungeziefer.


Während die schöne Herbstsonne über den Gassen und um die
steilen Dächer funkelte, rauchten alle Schornsteine, und überall spürte
man den Duft von Honigkuchen, Schmalzgebackenem, Gewürz, Wacholder und
Räucherwerk.


Unter dem Donner der Regensburger
Kammerbüchsen und dem Geläut der Glocken waren die engen Straßen und
der große Marktplatz, auf dem sich der Zug zur Einholung des Königs
ordnete, von einer farbigen, freudig erregten Menschenmenge erfüllt. Um
die städtischen Standarten und die vielen Kirchenfahnen ein Gewimmel von
Geistlichen in prunkvollen Ornaten, von reichgekleideten Ratsherren und
wappenfähigen Geschlechtern, von gepanzerten Stadtknechten, Söldnern
und Schützen, von Frauen mit Blumenkränzen im Haar, von geputzten
Jünglingen und Jungfrauen mit gebänderten Stäben und von vielen, vielen
kleinen Mädchen und Knaben mit langen Birkenreisern, an denen die
herbstlich gefärbten Blätter in der Sonne wie kleine, goldene Herzen
flimmerten.

Und rings um diesen farbigen Prunk herum, hinter den Zäunen
der Spießknechte, staute sich die graubraune Masse des mühsamen Volkes
mit kreischenden Kinderschwärmen; da hatte jede Mutter, die in reifen
Jahren war, einen Ring von struweligen Köpfen um sich her; und manche
mußte flink die Augen bewegen, wenn sie verläßlich wachen wollte über
das Dutzend ihrer Knospen.


Dieser fröhliche Lärm und dieses Festgepränge ließ nichts von
den Schrecken des Krieges gewahren, der seit Jahresfrist die bayerischen
Lande mit blinder Zerstörungswut durchtobte. Wie Augsburg und Nürnberg,
so hatte es auch Regensburg
durch kluge Politik verstanden, sich fern von den Wirren dieses Krieges
zu halten, und hatte das Aufblühen der Stadt gefördert, während
außerhalb ihrer schützenden Mauern die trotzigen Burgen fielen und die
Kräfte des Rittertums vor dem Ansturm der Söldnerscharen und unter den
Streichen der Bürger- und Bauernfäuste versagten.

Tausend Dörfer waren
in Flammen aufgegangen, und der Verzweiflungsschrei eines namenlosen
Elends durchschrillte alles offene Land, über das der Fürstenzank mit
Eisen, Feuer, Galgen, Büchsen, Hunger und Seuchen seine sinnlose
Verwüstung hatte hinrollen lassen, wie ein Bergsturz mit springenden
Trümmern alles blühende Leben verschwinden läßt unter seinem Schutt.
Doch in den ummauerten, von fester Kraft geschützten und mit
kaiserlichen Freiheitsbriefen begnadeten Städten war unbedrücktes Atmen,
rühriger Handel, wachsender Wohlstand und friedsame Arbeit, bei der ein
Umschwung aller Dinge im Reich und neue Zeiten sich vorbereiteten, die
Zeiten eines machtvollen Bürgertums.


Zu Regensburg,in dieser sonnenschönen, feierlichen Mittagsstunde, mischte sich mit dem
frohen, alle Gassen und den Marktplatz füllenden Festlärm ein fernes,
dumpfes Sausen, das der brausenden Stimme eines gewaltigen Stromes
glich. Es war das Stimmengewirr der dreißigtausend zugewanderten Bauern,
denen man den Einlaß durch die Mauer verweigert hatte, um die
friedliche, gesunde Stadt vor allem zu behüten, was da an Armut und
Zorn, an Aufruhr und Mordgefahr, an Unsitten und Krankheit
zusammenströmte aus allen Weiten der verwüsteten Lande.


Auf dem großen Anger vor dem Ostentore lagerte dieses graue
Heer des Elends und der Sehnsucht, des stumpfen Grames und der
seufzenden Erschöpfung, des suchenden Lasters und eines quirlenden
Leichtsinns, der alle Not und Trauer betäubte mit lachendem Schrei.


Während die von Süden ankommenden Fürstlichkeiten durch
Gepanzerte des städtischen Heeres empfangen und in die Stadt geleitet
wurden, irrten ruhelose Scharen der ausgesperrten Volksmenge an den
Wällen und Mauern entlang, kamen zum Ufer der Donau und kehrten zurück
zum Ostenanger. Mit jeder Minute vermehrte sich das graue Heer durch
neue Zuzüge von allen Landstraßen. Die vom Stadtrat aufgestellten
Zehrbuden, Brothütten und Schankzelte konnten den Hunger der vielen
Tausende nicht stillen, wurden geplündert und niedergerissen. Das
Gelärme der Ungeduldigen schmolz zusammen mit dem festlichen Dröhnen der
Kammerbüchsen und dem Freudengeläut der städtischen Glocken. Und
plötzlich brauste über den wimmelnden Aufruhr ein wilder,
tausendstimmiger Schrei erneuter Hoffnung hin: »Der König kommt! Der
Kaiser ist da!«


Das tosende Gewühl begann sich vorwärts zu schieben, gegen das
Ufer der Donau hinunter. Tolle Neugier und leidende Sehnsucht keilten
sich gegeneinander. Die Ellenbogen wühlten, und die Fäuste droschen.
Schwachgewordene wurden niedergestoßen und zertreten. Und weil den
Ausgesperrten auch der Zugang zur Steinernen Brücke verwehrt blieb,
rissen sie bei den Fischerhäusern die Kähne und Fähren los, um die Donau
zu übersetzen und dem deutschen König entgegenzuziehen; an die dick mit
Menschen gefüllten Boote klammerten sich noch Dutzende an und ließen
sich von den abwärtstreibenden Schiffen durch das Wasser schleifen; und
wenn eine ermattete Faust die Finger öffnen mußte und ein Mensch in den
schießenden Wellen versank, so war's für die anderen, wie wenn im
herbstlichen Wald ein welkes Blatt zwischen Moos und Stein verschwindet.


Hunderte kamen über den Strom, und viele Tausende füllten
dichtgedrängt die schmale Schiffslände zwischen dem Fuß der Stadtmauer
und dem Ufer der Donau. Über dem Strome drüben und hinter der
befestigten Vorstadt »Am Hofe« sahen sie auf den falben Wiesenhügeln,
über welche die Nürnberger Straße herunterkam, das feine Funkeln und
Farbenleuchten des Königszuges, der seiner Einholung wartete. Und
während auf der Steinernen Brücke, deren Türme und Türmchen von bunten
Tüchern flatterten, die festliche Menge der Städter mit Standarten und
Fahnen, mit zwei purpurnen Traghimmeln, mit Zinkengeschmetter und
Pfeifenklängen dem König entgegenzog, streckten auf der Schiffslände die
vielen Tausende des zugewanderten, eng zusammengepferchten Volkes in
gläubiger Hoffnung jenem fernen Königsgeglitzer die Arme entgegen und
schrien immer wieder mit rauh gewordenen Stimmen: »Der König ist kommen,
der Kaiser ist da!« Die Worte verstand man nicht. Doch flehende
Sehnsucht war in dem wogenden Gebrüll. Es klang, wie wenn eine riesige
Wallfahrtsmenge von Leidenden, Verzweifelten und Besessenen litaneit:


»Allmächtiger, erhöre uns! Allmächtiger, beschütze uns! Allmächtiger, erlöse uns von allem Übel!«


Kapitel 23 

In den großen Zelten, die auf der Wiesenhöhe der Nürnberger Straße für das Königspaar und sein Gefolge errichtet standen, hatten Herr Sigismund und Frau Barbara die verstaubten Reisekleider abgelegt und für den Einzug in Regensburg sich angetan mit dem Schmuck der Herrscherwürde.

Während die Königin, die immer geraumer Zeit bedurfte, um sich schön zu machen, noch vor dem silbernen Reisespiegel saß, hatte der König schon das Zelt verlassen und stand in der milden Sonne. Noch trug er die Krone nicht. Doch seine hohe Gestalt, in der sich Majestät und Anmut paarten, war schon umflossen von den starren Falten des schwer mit Gold bestickten und mit Hermelin verbrämten Purpurmantels. Darunter schimmerte der lange, bis zum Gürtel geschlitzte Reitrock von mattgrüner, mit Perlenblumen benähter Seide. An den Füßen glitzerten die goldgespornten Schnabelschuhe; und die großen, bunten Emailglieder des Gürtels trugen das breite Schwert, an dessen Knauf ein grüner Smaragd von der Größe einer Welschnuß funkelte ein Stück geschliffenen Glases den echten kostbaren Schwertstein hatte Herr Sigismund zu Nürnberg verpfänden müssen, um Geld für die Regensburger Reise zu beschaffen. Dieses Geld war auch schon wieder ausgegeben, war auf der langen Reisestrecke in die flehenden Hände des verarmten Volkes geflossen, das überall in hoffendem Glauben die Straße des schönen, hilfreichen Königs belagert hatte. Er kam zu seiner treuen Reichsstadt Regensburg mit einer Tasche, die so leer war wie ein junges Grab, aus dem der Schaufelmann soeben herausgestiegen.

Von den widerlichen Sorgen, die seine häusliche Wirtschaft bedrückten, war in seinen hellen, heiteren Augen kein Schatten zu gewahren. Er schwatzte munter und stand unter dem reinen Himmel wie ein menschgewordener Sonnenstrahl. Das kurzgelockte Braunhaar des Vierundfünfzigjährigen war noch ohne grauen Faden. Ein sorgsam gepflegter, in zwei Spitzen geteilter Vollbart mit lichterem, hübsch geschwungenem Schnauzer umrahmte das längliche, edelgeformte Gesicht, das frische, gesunde Farben hatte. Doch rings um die frohen Augen waren viele feingerissene Faltenzüge; sie erzählten von Blutstürmen und von Dingen, die nach Meinung der Frommen vor Gott kein Wohlgefallen finden. Wer nicht dicht vor dem König stand, sah diese Runenschrift eines wild durchrüttelten Lebens nimmer, sah nur den fürstlichen Kopf, diese herrliche, anmutsvoll bewegte Mannsgestalt, diesen König von unverwüstlicher Jugend und Schönheit, dem die Herzen des Volkes entgegenjubelten, wenn er lächelte und freundlich grüßte.

Neben ihm stand der päpstliche Legat Branda in scharlachfarbener Kardinalstracht mit einem wie aus Marmor geschnittenen Greisenkopf. Den beiden las der junge Kanzler Schlick eine Botschaft vor, die aus München gekommen war. Der Bote, der sie gebracht hatte Lampert Someiner stand bei den Herren des Hofes, grau verstaubt nach einem jagenden Ritt, in den Augen ein ruhiges Leuchten.

Während der Kanzler mit halblauter Stimme las, wurde ein Imbiß eingenommen. Wie beim Mahl auf einer Falkenbeize stand man zwischen angepflöckten Rossen oder saß auf Wiesenbuckeln und aß aus kleinen, billigen Zinnschüsseln. Das goldene Reisegeschirr der Majestät war zu Nürnberg bei dem großen Schwertsmaragd zurückgeblieben.

Der König hörte die Botschaft, die da gelesen wurde, mit Lächeln an. Eine leichte Röte auf seiner Stirn verriet den Zorn, den er stumm bezwang. Der Kardinal erregte sich: »Die Fürsten zu München sind begabt mit versöhnlichen Seelen. Sie verzeihen dem Ingolstädter flink. Rom wird zögern müssen mit seiner Güte.«

»Wie immer!« Herr Sigismund sah zu einer Herrengruppe hinüber, die den zwerghaften, großköpfigen Narren des Königs umstand und in schallendes Gelächter ausgebrochen war. »Was ist da drüben? Laßt euren sorgenvollen Herrscher mitlachen!«

Einer kam: »Wir sprachen von heißblütigen Frauen. Da sagte der Narr: In den Leib jener Frauen, die als Liebende unersättlich sind, müßte von ungefähr ein Pantherhaar geraten sein, das sich nimmer entfernt und ruhelos kitzelt.«

Die Majestät wurde verdrießlich. »Unser Narr kennt die Frauen, wie der Neid die Freude.« Und in böhmischer Sprache, die der Kardinal nicht verstand, sagte Sigismund seufzend zum Kanzler: »Wenn der Wirrsinn des Narren Wahrheit wäre, müßte unsere Königin einen ganzen Panther verschluckt haben.«

Da griffen plötzlich viele Herren nach ihren Waffen. Hinter dem Lagerplatz jagte auf der Nürnberger Straße eine dicke Staubwolke heran. Als man die Reiter und zwei braun und weiß gefleckte Hunde erkennen konnte, flüsterte Schlick: »Der Ingolstädter, mit dem Pienzenauer und Törring.«

Stumm, in aufbrennendem Zorne, wandte sich der König und trat so hastig ins Zelt, daß sich der Purpurmantel wie eine schwere Fahne hinter ihm herbauschte. Der Kanzler ihm nach. Im Zelt schrie Herr Sigismund: »Ich will ihn nicht sehen. Er hat wider Uns und das Reich gesündigt. Ich muß ihn von der Herrschaft stoßen.«

Da stand der zwerghafte, großköpfige Narr bei ihm, zupfte am Mantel des Königs und pisperte mit seinem Kastratenstimmchen: »Vetter, überschrei dir die Lunge nicht! Sonst wirst du zu Regensburg vor den schönen Frauen husten müssen, statt daß du gewinnend redest.«

Diese Stimme floß wie öl auf den Zorn des Herrschers. Ratlos sagte er zu Schlick: »Was soll ich tun?«

Lächelnd flüsterte der junge Rat: »Eine gütige Strenge wählen, die für heute zu nichts verpflichtet. Und warten, bis Vetter Heinrich sprach. Der Schatzturm von Burghausen hat eine Stimme, auf die man in knappen Zeitläuften hören muß.«

Alles Redliche in Sigismund wallte auf. »Schlick! Das ist ein Grauenvolles an meinem Leben. Immer will ich das Gute und Gerechte und muß es biegen und beschmutzen «

»Warum?« piepste der Zwerg. »Weil wir sonst den Schneider, Schuster und Bäcker nicht bezahlen können.«

»Schweige, Narr! Deine Späße lügen. Den König belügen alle. Vor dreißig Jahren hat mir einer, den ich vom Schwert zum Leben begnaden wollte, ins Gesicht gerufen: »Ich nehme nichts geschenkt von dir, du böhmisches Schwein!« Und hat seinen Kopf auf den Block gelegt. Seit damals hat mir keiner mehr die Wahrheit gesagt! Nur einer. Wo ist er? Narr! Hole mir den Fritz!«

Das großköpfige Männlein zappelte davon. Dann trat mit ihm ein kraftvoller Mann von fünfzig Jahren in das Zelt, schwer und schmucklos gepanzert, ohne Helm, mit dem roten Adler zwischen den schwarzweißen Gevierten des Waffenrockes. Der Kopf hatte in der Art des Braunhaares und des geteilten Vollbarts eine leichte Ähnlichkeit mit der Majestät, doch das sonnverbrannte Gesicht war gröber, fester und ruhiger; dazu ein Mund, der gerne und kräftig lachte, und kluge, graublaue Augen wie blanker Stahl   Friedrich von Zollern, der Burggraf von Nürnberg, der neue Herr der Brandenburger Mark.

In Erregung fragte der König: »Weißt du, wer kommt?«

»Er ist schon da.« Der Markgraf lachte. Er redete laut und rasch. »Rom setzt ihn bereits auf glühende Kohlen und röstet ihm das christliche Fundament. Ich besorge, man wird ihn um mancher Sünde willen brennen, die er nicht beging.«

»Hinter deinen Worten ist Erbarmen. Bist du nicht sein Feind?«

»Ich? Nein! Ich bin keines Mannes Feind. Schlägt einer her, so schlag ich hin, um ein gut Teil gröber als der andere. Kann er sich vertragen, so bin ich friedsam. Oheim Ludwig ist ein Baum mit Ästen, die gut sind. Die maßlos aufgeschossenen sind ihm gestutzt worden. Jetzt mögen die gesunden treiben. Das sollte die Majestät in Güte fördern.«

»Du weißt nicht, was bei München geschehen ist. Schlick! Gib ihm das Blatt zu lesen!«

Der Markgraf nahm das Pergament. Als er las, bedeckte sich seine Stirn mit harten Falten. »Ein garstiges Ding! Macht Waffenruhe mit mir, vertrödelt den wohlgemeinten Friedenshandel mit Landshut und nützt die unbedrängten Ellenbogen, um ruhige Leute zu puffen. Die gesunden Hiebe von Alling vergönn ich ihm. Das Leben hat heitere Gerechtigkeiten. Ich merke, daß er mich täuschte. Aber das haben die Münchener wettgemacht. Das friedsame Wort, das ich ihm sagte, soll gelten.«

»Lies weiter! Da wirst du von deinem Schwager Heinrich hören. Der Kleine hat wieder flinke Arbeit getan. Und sein treues Glück ist mit ihm gelaufen.«

»So?« Der Markgraf schien das gerne zu vernehmen. Doch als er weiterlas, fuhr ihm eine dunkle Blutwelle ins Gesicht. Die Lippen vorschiebend, faltete er das Pergament zusammen, bot es dem Kanzler hin und schwieg.

»Rede!« mahnte der König ungeduldig.

»Das fällt mir schwer. Der eine täuschte mich, der andere tat's noch übler. Man muß da immer wieder lernen, von neuem zu glauben. Die Majestät möge mich eines Ratschlages entbinden! Den einen will ich nicht tiefer hinunterstoßen, als er fiel. Und ich kann nicht reden wider den Bruder meines Weibes, das mir eine tapfere Hausfrau ist und mich beschenkte mit dem Besten des Lebens, mit gesunden Jungen.«

Sigismund, der ohne Sohn war und dieses Wort mit Mißvergnügen gehört hatte, rief ärgerlich: »Versagst du auch? Was soll ich tun?«

Hinter dem Rücken der Majestät guckte der Kanzler mit verständlicher Trauer in seine Gürteltasche.

»Ach so?« Für den Markgrafen schien die Stunde plötzlich an Ernst verloren zu haben. Er nickte. »Freilich, der Fink muß Hanf haben, wenn er nicht unschön pfeifen soll. An schöne Lieder bei Darbenden glaub ich nicht.«

»Was soll ich tun?« wiederholte der König gereizt, während man vor dem Zelt einen heftigen Wortwechsel zwischen dem Kardinal Branda und Herzog Ludwig vernahm. »Was soll ich tun?«

»Was kein Verständiger schelten darf. Geld kann man von den Juden borgen. Wenn's nicht billiger geht, um hohen Zins. Man braucht sie drum nicht zu verbrennen. Man kann sie auch bezahlen. Das ist minder schmerzhaft. Ich will gutstehen. Und der Fink kann pfeifen, wie er soll.«

»Gutstehen?« fragte Sigismund freundlicher. »Selber geben kannst du nicht?«

»Nicht jetzt. Die Majestät möge verzeihen. Ich bin erschöpft.«

»Du schüttest zu viel in den Sand deiner Mark.«

»Ohne Samen kein Weizen.«

Der König lächelte auf eine Art, die dem Markgrafen zu mißfallen schien. »So muß ich schauen, wo Samen sich findet.«

Vor dem Zelt die erregte Stimme des Kardinals: »Um Euretwillen wurde Glockenläuten, Gesang und Gottesdienst zerschlagen.«

Dann die zornbebende Stimme des Ingolstädters: »Warum sperrt Ihr um meinetwillen die Kirchen? Laßt sie offen für die anderen! Dann könnt Ihr läuten, singen und Messe lesen nach Herzenslust. Belagert nicht meinen Weg! Ich will zum König. Wozu das Reich, wozu der Herrscher, wenn die beiden sich verschließen vor der Not eines Deutschen?«

Im Zelt sagte Sigismund heiter: »Oh? Wo bleibt Paris? Mein Land ist reicher geworden um einen deutschen Mann.«

Da stürmte Herzog Ludwig in das Zelt, mit Staub bedeckt, das Gesicht von Gram zerstört, in den Augen den zerbrochenen Stolz. Schweigend biß er die Zähne übereinander und beugte das Knie.

Die Majestät trat zurück, blieb stumm und streckte abwehrend, mit einer anmutsvollen Geste, die schönen Hände vor sich hin.

Herzog Ludwig drückte den starren Nacken noch tiefer hinunter und harrte zitternd auf ein gütiges Wort. Weil es nicht kommen wollte, erbarmte sich der Markgraf dieses Gebeugten, wollte ihm mit einem freundlichen Scherz über den bösen Augenblick hinüberhelfen und sagte freundlich: »Oheim? Ihr habt keine gute Farbe. Seid Ihr ein so strenger Christ, daß Ihr im Übermaße fastet?«

Die gute Absicht dieses Scherzes mißverstehend, fuhr Herzog Ludwig vom Boden auf, mit brennender Stirne, mit Trauer und erneutem Haß in den Augen. »Willst du mich höhnen? Du? Der verschlang, was in meines großen Ahnherren goldenem Kessel gekocht wurde für Wittelsbach?«

»So ist es nicht. Aber wenn es so wäre, könnt ich nicht leugnen, daß es mir mundet.«

Noch heißer gereizt durch diese lächelnde Ruhe, wandte sich der Herzog an die Majestät. »König! Leidende haben ein helles Gesicht. Laß dich warnen vor diesem allzu Gesunden. Er wird dir die deutsche Krone nehmen, wie er meinem Hause die Mark genommen.«

»Die gab ich ihm doch. Als Dank für redliche Dienste.«

»Laß dich warnen!« Die Stimme des Herzogs war rauh von Zorn. »Seine Federn sind schwarz und weiß wie die der Elster. Was eine richtige Elster ist, die läßt ihr Hüpfen nicht.«

Herr Sigismund lachte heiter. Dennoch war es ihm anzumerken, daß diese Warnung bei seinem leicht erregbaren Mißtrauen ihr Ziel nicht völlig verfehlt hatte.

Des Königs achtete der Markgraf in diesem Augenblicke nicht. Er sah nur den von Zorn und Leid durchwühlten Herzog an und sagte ernst: »Leidende haben kein helles Gesicht, sie haben verschleierte Sinne. Dieses Wissen versöhnt mit ihnen. Ihr seid ein vergrämter Vogel, Oheim! Man merkt es an Eurem verstimmten Gesang. Ich habe schon bessere Lieder von Euch vernommen. Seht zu, daß Eure Kehle sich bald wieder bessern möge.« Er neigte sich vor der Majestät und ging im Geklirr seines schweren Panzers aus dem Zelt.

Die Augen des Königs, die ihm folgten, hatten einen unmutigen Blick. Dann sagte er zu Herzog Ludwig mit jener gütigen Strenge, deren Ton er glücklich zu treffen wußte: »Oheim, du bist ein männlicher Fürst. Auch warst du ein Mächtiger an Barschaft. Das haben Wir zu Unseren Gunsten oft erfahren. Wir schulden dir viel. Des wollen Wir gedenk bleiben. Aber dir ist es ergangen, wie es allen ergeht, die mehr Vertrauen in sich selbst haben als in Gott.«

Während immer das ferne Glockenläuten summte und das Zinkengeschmetter des festlichen Zuges näher und näher tönte, zwang Herr Ludwig die Worte heraus: »Was ich habe, will ich geben. Jetzt bin ich arm. Reichtum wird wieder kommen. Die Majestät verspreche mir nur, mich ungeschädigt bei meiner ererbten Herrschaft zu halten. Was ich erbitte, ist mein fürstliches Recht.«

»Der Schuldige muß empfangen, was ihm zugesprochen wird um christlicher Güte willen. Du bist besiegt durch die Kraft der anderen und durch die eigene Torheit.«

Das Gesicht des Herzogs entstellte sich. »Mich besiegte einer, den ich nicht nenne. Man kann einen Menschen beugen. Sein Recht bleibt stehen. Ich fordere mein Recht.«

»Wer fordert und nicht die Macht hat, seinen Willen durchzusetzen, ist ein Narr.« Bei diesem Worte nahm die heiter gewordene Majestät dem Herzog die pelzverbrämte Mütze vom Kopf und setzte ihm die Schellenkappe der Narren auf. Herr Ludwig stand unbeweglich.

Draußen erscholl ein süßer, lieblicher Gesang von tausend Kinderstimmen.

»Wir werden entscheiden im Rat der Fürsten!« sagte Sigismund. »Unsere treuen Regensburger kommen.« Er wandte sich. »Meine Krone?«

Unter spöttischem Grinsen brachte der Zwerg das von edlen Steinen funkelnde Königsgeschmeid: »Nimm, barmherziger Vetter, das ist deine Narrenkappe!«

»Meinst du, Wir hätten nicht den klugen Kopf, den sie verlangt?«

»Den hast du, leider! Du versäuerst mir mein hartes Brot, das wir zuweilen schuldig bleiben. Oft bist du witziger als ich.« Der Narr hörte das Rauschen eines seidenen Kleides und schmunzelte. »Die Funken deines Witzes erlöschen nur, wenn du Ehemann wirst. Und da kann ich meinen Witz nicht zeigen. Weil ich außerhalb des Türchens bleibe, hinter dem du klein und töricht wirst.«

Königin Barbara, die zweite Gemahlin der Majestät, trat aus der Zeltkammer, in milchblaue Seide gekleidet, die jede Form des schönen Körpers nachzeichnete. Funkelnd thronte das Krönlein über dem kupferroten Haar, und wie ein Glitzerhauch umfloß der silberne Schleier die reizvolle Gestalt. Eine Dreißigjährige, die einem jungfräulichen Mädchen glich, mit rosigen Wangen, mit schwellendem Mund und mit suchenden Schwarzaugen voll kindlicher Neugier.

Sigismund küßte sein Ehgemahl vorsichtig auf die Wange und sagte scherzend: »So schnell bereit?«

Die Narrenkappe fortschiebend, beugte Herzog Ludwig sich nieder. »Vor der Schönheit kniet man leichter als vor der Würde.« Freundlich hob ihn Frau Barbara auf und fing munter zu schwatzen an. Der Ingolstädter plauderte mit ihr, ritterlich und bilderreich, während sein entstelltes Gesicht wie Asche war.

Die Majestäten traten Hand in Hand aus dem Zelte. Brausender Jubel verschlang das Lied der Kinder, deren Schar mit den gelbgeblätterten Birkenzweigen in der Sonne wie ein goldenes Wäldchen war. Der König sah freundlich die vielen Kinder an und sagte: »Da wächst uns eine neue Welt.«

In weitem Ringe standen die Hochwürdigen, die Edelfesten und Ehrbaren der freien Stadt, die Zünfte mit ihren Fahnen, hinter ihnen die berittenen Söldner, die Fußknechte und Schützen, und dann das graue Volk.

Herzlich begrüßte der König den Fürstpropst Pienzenauer und den Kaspar Törring, die nicht sonderlich festlich aussahen.

Trompeten schmetterten, eine schwer atmende Stille lagerte sich in der Sonne, und während von der Stadt das Geläut der Glocken scholl, fing der Bürgermeister in Ehrfurcht zu reden an. Der König lauschte wohlwollend. Minder aufmerksam war die Königin, die in lächelnder Neugier die schmucken Geschlechtersöhne musterte. Zum Willkomm verehrte die Stadt der Majestät einen großen goldenen Kupf, der bis zum Rande gefüllt war mit rheinischen Dukaten; auch Frau Barbara, der Kanzler und der Narr bekamen Becher mit Geldgeschenken.

Nun bewegte sich der Zug mit Sang und Klang der Stadt entgegen. Immer segnete der päpstliche Legat das Volk; er ritt unter dem ersten Purpurhimmel.

Auf einem ungrischen Goldfuchs, dessen seidene Schabracke den Boden berührte, ritt die deutsche Majestät unter dem zweiten, kleineren Traghimmel; voraus schritten vier Edelknaben mit großen Gürteltaschen, aus denen sie neugeprägte Silberpfennige mit dem Bild des Königs in die Massen des jubelnden Volkes warfen. Hinter dem Herrscher, unter einem Pfauenfächer, ritt Königin Barbara auf einem Berberschimmel, der so zierlich war wie die schöne Frau in seinem Sattel. Dann kam die Schar der Fürsten und Herren, unter ihnen Herzog Ludwig mit entblößtem Haupt, zu jeder Seite seines abgehetzten Pferdes einer von den ruhig schreitenden Hunden; mit den lang herabhängenden Zungen und den mager gewordenen Leibern sahen sie aus wie lebendige Wappentiere. Und außerhalb der von Waffen starrenden Spaliere drängte sich eine graue, jubelnde Menschenmenge und raufte sich auf dem Boden um die Silberpfennige, die unter dem Purpurhimmel der Majestät herausflatterten.

Jetzt kam der Königszug zu dem Märchenbau der Steinernen Brücke. Ein wundervolles Bild: der mächtige, rauschende Strom und diese hochgeschwungenen, steinernen Bogen mit Toren und Türmchen, mit Fahnen, Kränzen und wirbelndem Bänderwerk; und drüben die feste, schöne Stadt, umflossen von goldener Sonne, mit den langen Mauerzügen, mit den von Menschen wimmelnden Wehrgängen und Basteien, mit den eng zusammengehuschelten Firsten und Türmen, die von bunten Tüchern umflattert, von Scharen der aufgescheuchten Dohlen und Tauben umflogen waren. Ein Dröhnen und Hallen, als wäre der ganze Himmel eine schwingende Glocke. Und jetzt als der König auf der Höhe der Brücke für die da drüben sichtbar wurde jetzt übertönte den klangvollen Lärm ein dumpfer, schwerer, den Himmel und die Erde erfüllender Laut wie der Ton einer Riesenorgel, wie das grauenvolle Stöhnen eines leidenden Ungeheuers: das sehnsüchtige Gebrüll der vierzigtausend Zugewanderten, die eng gepfercht zwischen Wasser und Mauer standen, in gläubiger Hoffnung immer »Kaiser! Kaiser! Kaiser!« schrien und die braunen, von grauen Lumpen umhangenen Hände hinaufstreckten zum erwarteten Retter.

Das Gesicht des Königs entfärbte sich in tiefer Erschütterung. Er stammelte einen Namen; zwei von den Ordnern des Zuges liefen nach rückwärts und brachten den Fürstpropst Peter Pienzenauer. Herr Sigismund umklammerte den Arm des Propstes: »Siehst du das? Da drunten? Das arme Volk! Und ich kann nicht helfen. Rom und die Fürsten machen mich zu einer Puppe, die an Drähten zuckt. Ich möchte das Gute und Rechte. Doch die Kleinen sträuben sich. Sie sind wie Mäuse, die sich in der Falle sicher vor der Katze glauben.« Zorn und Erregung zerdrückten ihm die Stimme. »Peter! Reite heim nach Berchtesgaden! Und rüttle in deinem Untersberg den alten, schlafenden Kaiser wach!«

Die Wirkung des Bildes, das er gesehen hatte, blieb in ihm, als er durch das Brückentor zu Regensburg einritt und umjubelt wurde von der Bürgerschaft. Er hörte nicht das Freudengeschrei und sah nicht die mit weißen Tüchern aus allen Fenstern winkenden Frauen. Zerstreut betrachtete er, was er sonst sehr gerne zu sehen liebte: den Flötenreigen der in durchsichtige Schleier gekleideten Hübschierinnen und geschuhten Wachteln, die man zu Regensburg die »armen Töchter« nannte. Die schmucken Weibchen, die sehr heiter waren, sperrten mit einem Seil aus roter Seide und mit Rosengewinden die Straßen und luden den König in galanten Versen zu einem Fest in ihrer süßen Herberg. Immer nickte, dankte und lächelte er. Doch etwas Müdes und Steinernes war in der heiteren Schönheit seines Gesichtes. Immer schienen seine Augen nach einwärts zu schauen in die trauernde Herrscherseele.

Als er in der gewölbten Halle des Stadthauses von den zu Regensburg eingetroffenen Fürsten empfangen wurde, eilte er, alle höfische Regel mißachtend, auf den kleinen Herzog Heinrich zu, nahm ihn beiseite und flüsterte ihm heiß ins Ohr: »Oheim Landshut! Wir wollen dir alles verzeihen! Alles! Kannst du Uns Geld geben? Viel Geld?« Seine Augen wurden fröhlich, als er von den dreißigtausend Dukaten hörte, die Herzog Heinrich schon in das Quartier der Majestät, in das alte Patrizierhaus der Gumprecht, hatte schaffen lassen. »Lieber Oheim!« Der König lachte. »Wir wollen dir danken. Morgen. Was Wir tun, ist verwerflich. Aber helfen ist von den Freuden des Lebens die schönste.«

Er befahl den Bürgermeister und die drei Almosenherren der Stadt zu sich. Noch in der gleichen Stunde sollte man aufkaufen, was in der Stadt an Zelten, Kleidern, Mänteln, Zehrung und Trank für das zugewanderte Volk zu erschwingen war. Auf vielen Wagen sollte man alles hinausfahren zum Anger vor dem Ostentor. Jede arme, leere Hand, die sich da draußen verlangend streckte, sollte empfangen von der Güte des deutschen Königs. Der Bürgermeister neigte sich dankbar vor dem Herrscher; doch der Auftrag, den er übernommen, machte ihm Sorge; er hatte Ursach, alle Tore fest verschlossen zu halten. Von da draußen war eine Meldung in die Stadt gedrungen, die man verschweigen mußte eine Meldung, vor der auch Tapfere erzitterten bis ins Blut. Da draußen, unter den vierzig Tausenden, war einer zugewandert. Der hatte leere Augenhöhlen und schlug mit der Knochenfaust an das Ostentor. Von allen Siegern der gewaltigste!

In der gewölbten, reich gezierten Halle des Stadthauses brannte, obwohl der Abend noch nicht dämmerte, schon die Fülle der Wachsfackeln und Kerzen. Um die schönen, freundlichen Majestäten bewegte sich ein funkelndes Gewirre von Fürsten und edlen Frauen, von geistlichen Würdenträgern, von ritterlichen Herren und wappenfähigen Bürgern.

Ein bißchen außerhalb des funkelnden Gewimmels stand in kostbarem Hofkleid der kleine Herzog Heinrich an eine Säule gelehnt, völlig genesen, belustigt und zufrieden. Seine blitzenden Schwarzaugen gingen suchend über das Gewühl der Gesichter hin, und ein feines Schmunzeln huschte um seine schmalen Lippen, so oft im Gewirr das unbedeckte Haupt und die grau bestäubten Schultern des Ingolstädters erschienen.

Da trat im schweren Panzer sein Schwager Zollern vor ihn hin, sah ihn an, nickte, schob die Lippen vor und schwieg. Mit lebhafter Herzlichkeit sagte der Kleine: »Gott grüß dich, Schwager! Wir haben uns lange nicht gesehen. Jetzt geschieht es zu guter Stunde. Wir hatten Glück, wir beide.«

»Jeder auf seine Weise. Um das recht zu sehen, mußt du mein Gedächtnis auffrischen. Wie lautete, was du mir nach Nüremberg geschrieben?«

»Daß du tun möchtest in meinem Namen, was ich als notwendig, hilfreich und redlich erkenne. Als redlich hab ich erkannt, was du tatest. Notwendig und hilfreich erschien es mir nicht. Drum hab ich es anders gemacht.« Herr Heinrich schmunzelte. »Mißfällt es dir?«

Zollern bekam die harten Furchen auf der Stirne. Dann lachte er plötzlich, laut und kräftig. »Schwager! Man kann dir im Ernst nicht grollen. Das ist manchmal ein schwierig Ding, zu wissen, was gut oder böse ist. An den sieben Häuten deiner Seele ist kein klarer Fleck. Aber dein Land und Volk wird gewinnen dabei. Das läßt milder über dich denken.« Er wollte gehen. Und sah neben der Säule den barhäuptigen Herzog Ludwig stehen mit aschfarbenem Gesicht und brennenden Augen. »Nur näher, Oheim! Hier findet Ihr einen klugen und heiteren Mann. Jetzt, vermute ich, wird er redlich mit Euch unterhandeln.« Klirrend schritt er davon.

Herr Heinrich verlor ein wenig an fröhlicher Farbe, als der hochgewachsene Ingolstädter in seiner gewalttätigen Art so dicht vor ihn hintrat.

»Wir sahen uns zum letztenmal in Konstanz. Nicht? Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Gute Vettern sollten sich zuweilen besuchen. Um sich auszusprechen. Damals in Konstanz wurdest du am Reden behindert. Nicht? Es war sehr finster. Damals. Heut ist es hell. Warum zitterst du? Die Stunde ist höfisch. Die Nähe des schönen Königs umschleiert die häßlichen Dinge. Da muß man zierliche Worte finden. Muß Brücken über alles Dunkle schlagen. Ich schaue nicht hinunter. Nein!« Herzog Ludwig sah die Narben an seinen Händen an. »Ich will dich nur etwas fragen. Eine kleine Sache. Das mußt du mir sagen.«

»Was, du Großer und Starker?« Herr Heinrich war wieder heiter geworden und streckte sich, weil er merkte, wie viele Augen in Neugier auf ihn und den anderen hersahen.

»Hast du in deinem Leben schon einmal die Wahrheit gesagt?«

Herzog Heinrich schien sich zu besinnen und nickte. »Doch. Manchmal. Wenn es nützlich war.«

»Dann sage sie mir jetzt!« Der Ingolstädter beugte sich langsam zu dem kleinen Vetter hinunter. Er lachte, wie man zu lustigen Dingen lacht. Doch seine Stimme keuchte: »Wer verriet mich?«

In Heinrichs schwarzen Augen blitzte es wie eine geschliffene Klinge. Seine Seele war durchwühlt von dem gierigen Wunsch, diesem Starken, noch immer nicht völlig Gebeugten den letzten Stoß in das Herz zu bohren. Seine Klugheit widerriet es ihm. Er sagte: »Niemand!« Schmetternde Trompetenstöße klangen vom Saal herunter, und die Majestäten stiegen auf lindem Teppich über die steinerne Treppe hinauf. »Das Mahl beginnt. Es möge dir schmecken, Vetter!« Herzog Heinrich ging rasch davon und wollte sich in das glitzernde Gewühl verlieren.

Da sprang ihm der Ingolstädter nach, faßte ihn mit eisernem Griff am Handgelenk, zerrte ihn hinter sich her zu einem Winkel der Halle hin und deutete auf eine mit kostbarem Hofkleid geschmückte Mißform. »Vetter? Kennst du den da? Ist das jemand? Oder niemand? Wer ist das?«

Prinz Höckerlein hatte ein weißes Gesicht, doch ein verwundertes Lächeln und einen sanften Knabenblick.

»Wer ist das?« schrie Herzog Ludwig so laut, daß die über die Treppe hinaufsteigenden Mahlgäste erstaunt die Köpfe drehten.

In Zorn hatte Heinrich seine Hand befreit. Nun sah er den Buckligen kalt und gleichgültig an und antwortete ruhig: »Die Ähnlichkeit versagt. Aber man weiß: Es ist dein Sohn.« Er ging zur Treppe hinüber.

Gebeugt stand Herzog Ludwig vor dem Prinzen, dem eine zarte Röte die Blässe vertrieben hatte. »Wann kamst du?«

»Jetzt eben, Vater!«

«Wo warst du seit deiner Heldentat von Alling?«

Mit dem Gesicht eines hilflos Bekümmerten klagte der Prinz: »Daß der große Feldherr, der mein Vater ist, in die Sümpfe reitet, konnte ich bei der Jugend meiner Kriegserfahrungen nicht vermuten. Als deine treulosen Einrösser meine Tapferkeit behinderten, nahm ich eine Straße, die mir fest erschien.«

»Ja, mein Würmchen, reite auf dieser Straße!« Herzog Ludwig, unter heiserem Lachen, klopfte dem Buckligen auf die Schulter. »Reite! Reite! Nur immer zu! Da wirst du weit kommen.« Er wollte gehen, wandte sich wieder und sagte rauh: »Weißt du, daß man mich zu Alling in meinem Zelt bestahl?«

Erschrocken fragte Prinz Höckerlein: »Um viel?«

Bei aller Qual belustigt, brach Herr Ludwig in Gelächter aus. »Um viel? Ach nein! Nur um Kronreif, Siegel und Stab. Das bißchen Bargeld soll außer Rechnung bleiben.«

»Die Diebe muß man ausforschen. Willst du mir das überlassen, Vater? Ich finde sie.« Die Augen des Buckligen erweiterten sich. »Solltest du verhindert werden, nach Ingolstadt heimzureiten, so will ich sie hängen lassen, diese bösen Diebe. Wie alle, die meinem Vater treulos waren.«

Im Gesicht des Herzogs eine jähe, grauenvolle Veränderung. Und mit schwerer, dumpfer Trauer sagte er leis: »Einen wirst du begnadigen müssen! Wenn du leben willst.« Er wandte sich und stieg über die festliche Treppe hinauf. Der mißgestaltete Knabe, in der schimmernden Seide seines reichen Hofkleides und mit seinem wippenden Spinnenschritt, ging lächelnd hinter ihm her.

Draußen auf der Straße eine brausende Woge des Jubels. Vom kleinen Erker des großen Rathaussaales hatte sich das Königspaar der Bürgerschaft gezeigt, die im Glanze des nahenden Abends Kopf an Kopf den Platz und die abziehenden Gassen füllte. Als die Majestäten vom Fenster verschwanden und droben im Saal die schmetternde Bankettmusik begann, entstand auf dem Platz ein schiebendes Gewühl unter Kreischen und lustigem Gelächter. Auch Streitreden und Händel gab's. Die jungen Bürgersöhne vermerkten es übel, daß ihren Schwestern und Bäschen die fremden Fürstenknechte so gut gefielen.

Ein Burghausener Harnischer hatte ein blondes Mädel gefischt und zog es hinüber zum Wadmarkt. Der war abgesperrt. Vor dem Mallerschen Patrizierhause, wo Herzog Heinrich Quartier genommen, standen die Zelte seiner Söldner und die angepflöckten Rosse. Als der Harnischer das blonde Mädel durch die Wache schmuggelte, fragte ein Stadtknecht nach dem Malimmes vom Taubensee. Man wies den Knecht zu einem Zelt, in dem ein schmuck gekleideter Söldner auf den Pferdedecken lag. »Du? Bist du der Malimmes vom Taubensee?«

Ein Müder richtete sich auf. »Ich bin's gewesen einmal. Was ich jetzt bin, weiß ich nimmer. Der Krieg macht böses Vieh aus den Leuten. Was willst du?«

»Beim Ostentor ist einer festgenommen worden, der die Mauer hat übersteigen wollen. Der sagt, er müßt mit dem deutschen König reden und war aus der Ramsau. Du tätst ihn kennen, sagt er.«

Verdrießlich murrte Malimmes: »Was geht mich die Ramsau an? Ruh will ich haben.« Doch er nahm seinen Hut und das Eisen. »Komm! Das Gewesene laßt einen nimmer aus.«

Als sie den Zaun der Wache durchschritten hatten und hineintauchen wollten in das heitere Menschengewühl, blieb Malimmes stehen und musterte ein geputztes Weib, das einen grünen Schleier um Haar und Gesicht gewickelt trug und wie wartend dastand. »Ist die schon wieder um den Weg?« Seit er zu Regensburg eingeritten, hatte er diesen grünen Schleier schon viermal gesehen. »So eine geschuhte Wachtel! Was die nur will von mir? Komm!«

Es war eine harte Mühe, in diesem Gedräng das Ostentor zu erreichen. Hier ging es lärmend zu. Hochbeladene Karren wurden in langer Reihe zum Tor hinausgefahren, ein dumpfes Brausen scholl herein, und Stadtknechte mit gefällten Piken verteidigten die Torlücken, um die von draußen andrängenden Menschen abzuwehren.

In einer kleinen, schon vom Abend durchschleierten Kammer neben der Wachtstube fand Malimmes den Hinterseer Fischbauer, der die Würde und das Wort des Seppi Ruechsam geerbt hatte. In der braunen Faust umklammerte der Bauer eine blecherne Pergamentkapsel. Sonst war er splitternackt. Ein Medikus untersuchte ihn und sagte: »Redet sonst nichts wider ihn, so kann man ihm Einlaß gönnen. Der Mann ist gesund.«

«Was denn sonst?«

Malimmes mußte für den Verdächtigen zeugen. Er nickte. »Das ist ein guter Mensch. Der hat mit dem Vieh zu tun. Das Vieh verdirbt einen Menschen nit.« Und während der Fischbauer in das Hemd fuhr, fragte der Söldner zögernd: »Wie geht's denn allweil? Daheim?«

»Recht muß Recht sein. Sonst geht's nit schlecht. Langsam macht sich schon alles wieder. Drei von meinen Buben hat man totgeschlagen. Aber von den fünfen, die noch übrig sind, hat jeder ein Gütl gekriegt, das leer geworden ist.«

»So so? Und der Mareiner?«

Der Albmeister lachte. »Dein Bruder ist angerumpelt und muß das Maul wieder halten. Sein Zenonisches Erbrecht hat man nit gelten lassen. Jetzt ist er wieder Sanktpetrischer Frongütler. Aber sonst ist Segen in seinem Haus. An Ostern hat seine Bäurin Drilling gekriegt. Drei Buben.«

»Nit mehr?« Auch Malimmes wurde heiter.

»Gelt, ja! Heuer ist in der Ramsau ein gutes Kinderjahr. Jedes Weibl und Maidl tragt in der Sonn was Lebendigs umeinander.«

»Wo man viel totgeschlagen hat, müssen viel wieder herwachsen. Geh's wie's mag!«

»Was denn sonst?« Der Fischbauer bändelte die zwei Schäfte seiner grauen Hose zusammen.

»Und außer den drei Buben?« Das Gesicht des Malimmes, das eben noch überleuchtet war von einer wilden Fröhlichkeit, wurde hart und ernst. »Ist da sonst noch ein Kindl im Haus? Beim Bruder?«

»Geh, du Narr!« Der Albmeister schlüpfte in die genagelten Schuhe. »Meinst, deine Schwägerin kann hexen? Freilich, ein lützel was lernt man im Krieg. Die Mareinerin hat allweil gezittert vor Angst, wenn ein Herrenknecht in der Näh gewesen. Jetzt lacht das tapfere Weibl, so oft einer kommt. Was denn sonst?«

»So so?« Nach langem Schweigen, während der Albmeister die Riemen seiner Schuhe knüpfte, fragte Malimmes rauh: »Wie geht's meiner Mutter?«

»Jeh, du, die ist doch gestorben, selbigsmal, wie der Marimpfel bei Piding hat bleiben müssen. Den besten von ihren Buben verliert eine Mutter hart.«

Diesen Erfahrungssatz des Albmeisters hörte Malimmes nimmer. Der Strich seiner großen Narbe war so bleich geworden, als hinge ein weißer Zwirnfaden über das braune Gesicht herunter. So ging er stumm und mit schwerem Schritt aus der Kammer.

Draußen in der Glut des schönen Abends ließ er sich einkeilen in das Gewühl der Menschen und ließ sich schieben, stoßen und treiben von der Menge er wußte nicht, wohin. Und wo dieser bunte, frohe, rauschende, vom Blut des Abends überleuchtete Lebensstrom den Malimmes hinschwemmte, in jeder Gasse, überall und immer war jener grüne Wachtelschleier in seiner Nähe. Jetzt wieder. In der engen Brückengasse. Und da wühlte sich Malimmes plötzlich zu dem Frauenzimmer hin und griff nach dem grünen Schleier. Das Weib wehrte sich schweigend und wollte entrinnen. Aber Malimmes hatte den Schleier schon in der Faust und riß ihn herunter.

Blonde Zöpfe, große, angstvolle Augen und ein geschminktes Gesicht, das nicht erblassen konnte. Die Traudi war's. Stumm und zitternd stand sie vor ihm, Furcht, Liebe, Gram und Freude im nassen Blick.

Beim ersten Erkennen leuchtete in Malimmes etwas auf, als wäre in seine frierende Einsamkeit ein bißchen Wärme gekommen. Doch beim ersten Blick gewahrte er auch das Fürchterliche im Gesicht dieser armen Tochter: die französischen Krankheitsflecken unter der weißen und roten Schminke. Wortlos, die Zähne übereinander knirschend, faßte er die Traudi am Arm.

Sie entzog sich ihm und sagte traurig: »Du sollst mich nimmer anrühren! Du nit. Die Kriegsleut haben mich versaut.«

Er brauchte lang, bis er fragen konnte: »Warum bist du fort von daheim?«

»Wie die Mutter tot war, hat's mich nimmer gelitten. Weil du nit kommen bist, hab ich dich suchen müssen. So bin ich auf Wasserburg gekommen, das man beschossen hat. Jeden hab ich gefragt nach dir. Und einer « Sie konnte nimmer weiterreden.

Er sagte heiser: »Wasserburg? Das ist im vorigen Herbst gewesen.« Sein Gesicht entstellte sich. »Wann hast du dein Kind geboren?«

»Wie man Friedberg verwüstet hat, heuer in der Osterwoch.«

Die Augen des Malimmes irrten flackernd über das vergnügte Gewühl der Menschen hin. »Gott wird wollen haben, daß dein Kindl tot ist?«

Sie schüttelte den Kopf.

Da schrie er wild: »Es lebt?«

Sie nickte.

Den Kopf beugend, keuchte er: »Wo hast du's?«

»Drunten, im Holzländgässel, bei meiner Herbergsmutter.«

Schweigend stand er vor ihr, wie mit gebrochenem Nacken. Dann sagte er müde: »Komm!«

Sie rührte sich nicht und sah ihn verzweifelt an.

»Hörst nit? Komm!« Er wühlte einen Weg durch das Menschengedräng. Und die Traudi schmiegte sich hinter ihm her; heimlich berührte sie mit den Fingerspitzen seine Arme, seinen Rücken, seine Schultern; dabei war in ihren klagenden Augen ein kleines, armes Glück.

Zwischen hohen Häusern mit feuchten, muffigen Mauern lag eine enge, lange Gasse, in die vom leuchtenden Abendhimmel noch ein matter Glanz herunterfiel. Nur wenig Leute liefen da hin und her. Immer jagender wurde der Schritt des Malimmes. Schwer atmend tappelte die Traudi neben ihm her. Ein paarmal versuchte sie zu reden. Immer schwieg er. Da sagte sie leise. »Deinen Goldpfennig hat mir einer vom Hals gerissen. Das ist mir das Ärgste gewesen.«

Er schwieg.

»Aber ein lützel was hab ich schon noch von dir.« Sie wartete, ob er fragen würde.

Er schwieg.

»Das Hemmed, das du mir beim Hallturm in den Binkel geschoben hast. Das hab ich noch. Ich hab's gewaschen und gut geflickt. An jedem Sonntag, wenn die anderen in der Kirche sind, schlupf ich allweil ein lützel hinein und geh mit dem Kind in meiner Stub herum. Da bet ich.«

Schweigend nahm er ihre Hand und machte kürzere Schritte, damit sie nicht so schnaufen müßte.

Unter einem verträumten Lächeln fragte sie: »Ist der Heiner auch bei dir?«

»Der ist tot.«

»Jesus! Aber der Altknecht, gelt?«

»Der ist tot.«

»Herr Jesus! Und der Bauer?«

»Der ist tot.«

»Allmächtiger! Muß denn alles « Die Stimme zerbrach ihr. »Und «

Er senkte schweigend den Kopf.

Da fragte sie scheu: »Wo ist denn der Bub?« Erschrocken umklammerte sie seinen Arm; denn sie sah ein Gesicht, als wäre das nicht der Malimmes, sondern ein Fremder, den sie nie im Leben gesehen hatte.

Ruhig befreite er seinen Arm und sagte mit Worten, die wie Eisen waren: »Wer fragt, geht irr. Krieg ist Krieg. Die Lieb macht lebendig, der Krieg macht tot. Frag nit um die andern! Dein Kind lebt.« Er lachte.

Die Traudi verstand den Malimmes nimmer. Hilflos sah sie zu ihm auf. »Tust du denn nit trauern?«

»Die Zeit ist so. Da muß man sein Herz an die Wand werfen können, daß es hängen bleibt.«

Sie wagte kein Wort mehr zu reden.

Ganz am Ende der Gasse blieb sie vor einem schlechten Hause stehen, über dessen Tür, obwohl es noch nicht dunkelte, eine rote Laterne brannte.

»Kommst du mit herauf?«

Er schüttelte den Kopf.

»So wart ein lützel, ich bring's.« Sie wollte ins Haus treten, blieb stehen, sah ihn glücklich an und machte eine Bewegung, als möchte sie mit dem Finger an seine große Narbe rühren. »Schier gar nimmer sieht man's.«

Malimmes nickte. Und als sie im Haus verschwunden war, setzte er sich auf die Bank neben der Türe.

Über der Mauer draußen rauschte die Donau. Der Lärm der Menschen hing über der Stadt wie das Summen eines riesigen Bienenschwarmes, vom Stadthaus klang die Bankettmusik gleich einem feintönenden Gezirpe, und der lange Strich des abendroten Himmels über den Dächern der schmalen Gasse war wie eine große, blutende Wunde, die man mit einem schartigen Schwert in Gottes Gesicht geschlagen hatte.

Langsam kam die Traudi aus dem dunkeln Türloch heraus, an der Brust ein kleines, rotes, blaues und grünes Binkelchen, mit einem weißen Schleierlappen.

Er streckte sich und nahm das von Bändern umwickelte Kissen auf seine Arme.

Die Traudi sagte: »Ist ein Büblein. Und heißt Mariä Lichtmeß. Wie du.« Als er den Schleier wegzog, war eine flehende Angst in ihrem Blick. »Jetzt schaut es ein lützel ungut aus. Ist allweil wie ein Röslein gewesen. Jetzt hat es ich weiß nit, was aber das vergeht schon wieder. Gelt, ja?«

Das Gesicht des Malimmes versteinte, während er dieses kleine, wunde, rettungslose Leiden betrachtete, aus dem zwei klagende Lichterchen hervorguckten wie die Augen eines jungen, sterbenden Tierchens.

»Gelt, ja? Gelt, ja? Das wird schon wieder gut? Das ist halt so, wie's die Kinder oft haben.«

Er nickte und schloß die Augen. Und so, mit geschlossenen Augen, sagte er ruhig: »Da tu dich nit sorgen, gutes Maidl! Das ist, was die Leut den Dreißiger heißen. Da gibt's ein Mittel dafür.«

»Gelt, ja?«

»Da hilf ich, Maidl, jetzt gleich.«

»Jesus!«

»Und Vergeltsgott für das liebe Kind! Dem will ich ein guter Vater sein.«

Die Traudi lachte, als wäre ihr der leuchtende Himmel ins Herz gefallen.

»Hast du einen Mantel?«

Sie sprang ins Haus.

Malimmes öffnete die Augen. Er sah das wunde Gesichtchen des Kindes an. Und sah wie ein Irrsinniger die Gasse hinauf. Und sah zur Mauer hinunter. War da drunten nicht ein Törlein, das zur Holzländ führte? War da draußen nicht die rauschende, reißende Donau?

Nun strich er mit der Hand über die dünnen Härchen des Kindes hin, hüllte den kleinen Schleier drüber und sagte leis und zärtlich: »Paß auf, Kindl, was du für einen guten Vater hast! Was ich für dich tu, das bringen die besten nit fertig.« Die Augen schließend, spannte er seine stählerne Faust um die Schläfe dieses kleinen, vergifteten Lebens.

Da kam die Traudi mit einem grünen Mantel.

»Recht so, Maidl! Auf dich ist Verlaß! Bist noch allweil die Richtige.« Er hüllte den Mantel um das Kissen und ging der Mauer zu. »Jetzt komm!«

Sie lief neben ihm her wie ein treues, gläubiges Tier neben seinem Herrn. Und da fing er ruhig und heiter zu reden an. »So ein Dreißiger bei einem Kind, das ist nur wie bei einem großen Menschen ein Schnitt in den Finger. Man taucht das kranke Kind in fließendes «Wasser. Dreimal. Und in drei Wochen ist das Kind wieder heil, ist gesünder und schöner als je. Dann reitet man in die Ramsau, selbdritt auf einem guten und festen Gaul. Da kauft man sich in ein Gütl hinein, das leer geworden. Und da schafft man und ist zufrieden. Und da ist man beisammen und lebt, wird alt und stirbt, und Kreuz darüber, und aus und gar ist's, und schöner hätt's nit sein können!«

Traudi, ein bißchen zweifelnd, fragte in ihrer bangen Freude: »Tust dich nit scheuen vor mir?«

Er schüttelte den Kopf. »Der Krieg ist schuld. Du bist die Beste gewesen. Und bist's noch allweil. Gott will nit, daß eins büßen muß durch ein langes Leben, was andere verschuldet haben.«

Die Traudi bekam Augen, als hätte sie schweren, süßen Wein getrunken.

Malimmes ging auf den Wärter des kleinen Tores zu und flüsterte die Losung des Tages: »König und Reich!« Und sagte laut: »Befehl meines Fürsten. Ich muß eine gute Mutter und ihr liebes Kind geleiten. Nachher komm ich wieder.«

Der Strom und drüben die Insel Wöhrd und die Bogen der Steinernen Brücke, alles war schon von den grauen Schleiern der Dämmerung umhangen. Das starke Rauschen des nahen Wassers verschlang jedes andere Geräusch.

Die schmale Holzländ zwischen Mauer und Strom, wo in der Mittagsstunde viele Tausende ihr »Kaiser! Kaiser! Kaiser!« geschrien hatten, war öde geworden. Nicht völlig. Ein paar graue Menschen saßen wie schlafend gegen die Mauer gelehnt. Sie gaben keine Antwort, als Malimmes grüßte: »Guten Abend, Leut!« Und einer lag ausgestreckt auf der Erde, mit dem Gesicht nach unten. »Maidl, da mußt du ausweichen! «Wird wohl ein Rauschiger sein.« Er stieg zu einem Floß hinunter. Den Mantel knüpfte er wie ein Bündel um das Kissen herum. »So, Maidl! Jetzt beten wir. Alles Hilfreiche muß mit Gott geschehen.« Auf den Knien liegend, betete er mit hochgefalteten Händen, wie die Kriegsknechte beten, bevor sie morden müssen.

Die Traudi betete froh und gläubig, mit heller Stimme.

»Also, Maidl! Jetzt nimm den Mantelknoten um den Hals herum. Da hebst du das gute Kindl leichter. Und dreimal eintauchen, flink und fest. Und jedesmal mußt du sagen: >Gott soll uns gnädig sein!<</p>

Malimmes erhob sich, während die Traudi auf den Knien blieb. Sie hatte ein bißchen Angst vor dem starken Rauschen des Wassers. Aber was der Malimmes will, das tut man, weil es das Gute und Rechte ist. Gehorsam schob sie den Kopf unter den Kreuzknoten des Mantels. »Gott soll uns gnädig sein!« Sie ließ den dunklen Binkel hurtig hinuntertauchen. Das reißende Wasser schoß in den Mantelsack und zog wie ein Riese. Die Traudi kreischte noch: »Hilf, Malimmes!« Und verschwand im jagenden Schuß der Wellen.

»Ist schon geholfen, du arme Tochter!« Malimmes bekreuzte sich. »Gott soll mir gnädig sein! Die Menschen täten mich verdammen.«

Lange stand er unbeweglich und sah dem Gewirbel der rauschenden Wellen nach, bis der Abend ihn umhüllte mit dunklem Grau.

Als er langsam zurückging zu der Mauerpforte, brannten auf den Türmen und Basteien unter Glockengeläut die Pfannenfeuer und Ehrenflammen auf.

Über allen Dächern glomm ein strahlendes Leuchten, vor allen Fenstern flackerten die Lichterschnüre auf den Gesimsen. Griechische Feuer wechselten in weißen, roten und grünen Farben.

Ein jubelnder Lärm in allen Gassen. Und auf dem Platz vor dem Stadthaus ein wogendes Stimmengebrause.

So dick standen da die Menschen, daß Malimmes den Weg zum Wadmarkte nur mühsam erzwang. Er sah noch, wie auf dem kleinen Erker des großen Ratssaales der König und die Königin mit den Herzögen von München und Landshut im strahlenden Glanz der tausend Lichter erschienen. Und da begann im Jubel der anderen auch Malimmes zu schreien: »Kaiser! Kaiser! Kaiser!« Seine Stimme war wie eine Trompete und schmetterte, daß alle Leute, die um ihn her waren, zu lachen anfingen. Wie betrunken war er. Und immer wieder schrie er: »Kaiser! Kaiser! Kaiser!«

Die grelle Stimme flog so scharf über das brausende Jubelgewoge hinaus, daß sie auf dem Erker der Fürstlichkeiten deutlich zu hören war. Die schöne Königin lachte belustigt auf. »So hört doch! Hört! Da drunten wiehert ein Elefant!«

»Die Stimme kenn ich«, sagte Herr Heinrich, dem das braune Gesicht vom genossenen Weine brannte, »das ist einer von den meinen, mein Bester, mein Galgenvogel Malimmes. So hab ich ihn schreien hören einmal in hartem Gefecht, wie er in Sorg um einen jungen Buben war. Der hat eine Gurgel wie keiner mehr. Und alles kann er besser als andere.«

»Alles?« Frau Barbara kicherte, und neugierig suchten ihre Augen in dem vom Lichterschein beglänzten Gewühl des Volkes.

»Alles?« wiederholte der kleine Herzog. Er lachte. »Da bin ich überfragt. Aber was ich weiß von ihm, reicht aus. Das ist das mannhafteste Mannsbild, das ich je gesehen hab auf der Welt. Ist schlechter als schlecht und besser als gut.«

Die wunderliche Neugier der Königin wuchs.

»Der beweist das Leben und widerlegt den Tod. Schon siebenmal hat er im hänfenen Strick gehangen und ist jedsmal aus der Schling lebendig wieder herausgesprungen ins unsterbliche Lachen.«

»Siebenmal gehangen? Und siebenmal wieder auferstanden?« Die Königin hatte die glänzenden Augen eines staunenden und begehrlichen Kindes. »Den will ich sehen.«

Der Herzog sagte scherzend: »Aber da müßt Ihr Eure Zofen ermahnen, daß sich keine in ihn verliebt. Der Mann ist so keusch wie ein steinernes Heiligenbild.«

»Gibt es solche?«

»Der ist einer.«

»Das glaub ich nicht.« Belustigt schüttelte die schöne Frau das von kupferroten Locken umzitterte Köpfchen, das die zierliche Krone trug. »Heilige gibt es nur im Himmel. Auf Erden sind auch die Männer selten.«

Als der König mit anmutsvollen Handbewegungen das jubelnde Volk zum Abschied grüßte und dem Hochsitz der Fürstentafel zuging, hängte sich Königin Barbara an den Arm des kleinen Herzogs.

Über dem bunten Farbengewirr der sieben lärmvollen Tafeln schimmerte der große, schöne Saal von strahlendem Licht. Der Wein begann schon die Stimmen rauh und laut zu machen. Das Schwatzen wurde zum Geschrei, die Heiterkeit zum Gebrüll. Der König, der die Ausbrüche trunkener Stunden kannte, hatte seiner Gemahlin schon einen Wink zum Aufbruch der Frauen gegeben. Das wollte die Königin nicht bemerken; in Eifer und mit schimmernden Augen lauschte sie den seltsamen Dingen, die Herzog Heinrich von seinem Galgenvogel Malimmes berichtete.

Zwei Ratsherren kamen mit dem Goldenen Buche der Stadt zur Fürstentafel, damit der Herrscher und die Herzöge den festlichen Tag durch weise Worte verewigen möchten. Freundlich plauderte der König mit den beiden Bürgern über die Not der Zeit und schrieb in das Buch: »Streitigkeiten sollte man mit guten Worten schlichten, nicht aber mit bösen Streichen.« Diesen Weisheitsspruch der Majestät glossierte der Narr durch die Anmerkung: »Könige wissen immer das Rechte. Aber sie tun es nie.«

Darunter schrieb Herzog Ernst von Bayern-München: »Gott hat den Frieden erfunden, der Teufel erfand den Krieg.«

Friedrich von Zollern schrieb: »Wird ein Bauer erschlagen, so zittert die Krone seines Fürsten; wird ein Bauer geboren, so wächst das Reich. Das Volk ist Volk auch ohne uns Fürsten, wir sind nicht Fürsten ohne das Volk.«

Als Herzog Heinrich diese Worte las, nickte er seinem Schwager lächelnd zu und schrieb mit seinen flinken, kritzeligen Buchstäbchen darunter: »Leichter als den Verlust eines Dukaten verschmerzt die Welt den Totschlag von tausend Menschen. Wo Menschen sterben, gewinnt das bleibende Leben. Da werden die Leute tüchtiger, weil vier Fleißige leisten müssen, was früher zehn Faule nicht zustande brachten.«

Herzog Wilhelm von München, der nicht las, was die anderen geschrieben hatten, bereicherte das Goldene Buch durch den alten Vers:

»Was du weißt, verschweig,
Wo dir wohl ist, bleib,
Was du hast, behalt,
Werd mit Lachen alt!«

Kardinal Branda schrieb lateinisch: »Gott und Petrus. Dann das andere.«

Der Ingolstädter, als man das Buch vor ihn hinlegte, lachte heiser, tat aus seinem Becher einen schweren Trunk, sah zum Ende der Tafel hinunter, wo der Bucklige in guter Laune zwei junge Damen der Königin zu verlegenem Gelächter brachte und schrieb:

»Ich hab an einer Gewohnheit gelitten:
So oft ich bin von Haus geritten,
Tat ich zu Gott ein heiß Gebet,
Daß ich bald wieder heimkommen tät.
Jetzt bitt ich meinen Herrgott sehr, Daß ich heimkomm nimmermehr.«

Als das Goldene Buch nach langem Wandern zum Ende der Tafel kam, schrieb Ludwig Höckerlein mit zierlicher Klosterschrift ein einziges Wort unter die Verse seines Vaters:

»Amen!«

Während er neben dieses Wort ein gekröntes Kreuzlein malte, gab es im Saal einen scharrenden Lärm. Frau Barbara hatte sich erhoben. Der König küßte seine schöne Gemahlin vorsichtig auf beide Wangen. Geführt von Edelknaben mit Windlichtern, unter einem Schmettertusch der Musikanten und unter den jubelnden Zurufen der Fürsten, Ritter und Ratsherren verließ die Königin mit allen Frauen den Saal.

Ihrer Sänfte gingen die städtischen Pfeifer voran, und in den lichtschimmernden Gassen begleitete sie der fröhliche Jubel des Volkes bis zur Türe des Gumbrechtischen Hauses.

Eine Stunde später, als die strenge Bierglocke der Stadtpolizei schon geläutet hatte und die dunkelgewordenen Gassen zu veröden begannen, huschte eine verhüllte Magd durch ein enges Gäßlein. Sie lief zum Platze vor dem Stadthaus und blieb da wartend in einem Winkel stehen.

Droben im Saal war die Bankettmusik verstummt. Doch hinter den erleuchteten Fenstern tobte noch immer der heitere Lärm der betrunkenen Herren.

Vornehmen Gästen, die den Saal verließen, wurde mit Wachsfackeln heimgeleuchtet. Mancher ging aufrecht, mancher taumelte. Den Herzog Heinrich, dem sehr übel geworden war, trug man zum Mallerschen Hause auf dem Wadmarkt.

Dann kam eine kleine Schar junger Hofleute. Bei ihnen war der Narr des Königs und ein Mißgestalteter in schimmerndem Festkleid. Er benahm sich sehr übermütig und machte Scherze, die seine Begleiter bei stetem Gelächter erhielten. Inmitten dieser Überfröhlichen ging ein hochgewachsener Mann mit anmutigem Schritt, schweigsam, über dem Kopf einen schwarzen Ratsherrenmantel. Die Nachtschwärmer zogen hinunter zum Latron. Hier lag, der alten Kapelle gegenüber, das von einem Gärtlein umzogene Frauenhaus, der armen Töchter süße Herberg, in der die Stadt auf ihre Kosten ein heiteres Nachtfest bestellt hatte.

Dem lärmenden Häuflein war die verhüllte Magd bis zum Latron nachgegangen. Als sie den Mann mit dem schwarzen Ratsherrenmantel im Gärtlein des Frauenhauses verschwinden sah, lief sie schnell durch die stillen Gassen zurück.

Das Rauschen der Donau schwamm in der kühlen, stern- hellen Herbstnacht. Aus der Richtung des Ostentores klang ruhelos ein dumpfes Summen. Und vom Tiergarten dröhnten die Orgeltöne brünstiger Hirsche.

Auf dem Wadmarkt, in einem Zelte vor dem Haus der Maller, wurde ein Schläfer geweckt, der in den Kleidern auf den Pferdedecken lag. »Komm!« flüsterte der Harnischer, der ihn aufgerüttelt hatte.

Eine ruhige Stimme: »Was ist denn?«

»Komm nur!«

Als Malimmes vor das Zelt hinaustrat, wurde ihm rasch eine dicke Binde um die Augen geknüpft. »So so?« Er lachte ein bißchen. »Jetzt weiß ich nit, holt mich der Henker, oder ist was anderes los?« Eine linde Hand umfaßte seine knöcherne Faust. Er sagte verdrießlich: »Höia, jetzt weiß ich, wie ich dran bin. Die Menschen leben in harter Zeit. Da muß man so einer armen Seel einen Spaß vergönnen.«

Es ging sehr flink durch die stillen Gassen. Neben dem festen Schritt des Söldners rauschte immer das Kleid der Magd.
(es geht in Regensburg weiter in Kapitel 24 und 25, dem Ende des Buchs).

Kapitel 24



Malimmes, noch immer mit der Binde um die Augen, spürte einen zarten Duft von Rosenwasser, Lavendel und reifen Birnen. »Teufel, da schmeckt's aber fein. Beim Hallturm hat's übler gerochen.«

Ein leises Kichern.

Er hob den Kopf. »Ui, jetzt bin ich angeschmiert. Ich hab gemeint, man holt mich zu einer. Da kudern viere. Und eine steht hinter mir, die sich nit zu mucksen traut.«

»Deine Sinne sind scharf!« sagte ein leises, heiteres Stimmchen. »Wer bist du?«

»Kluge Frauen fragen nit, was sie schon wissen. Warum die Zeit vergeuden?«

Wieder das vierstimmige Kichern. Und das heitere, leise Stimmchen: »Bist du jener Malimmes, der schreien kann wie ein Elefant?«

»Soll ich's tun, Frau?«

Ein erschrockenes Nein. Dann die flüsternde Frage: »Bist du jener Malimmes, der siebenmal hängen mußte und siebenmal wieder auferstand?«

»Siebenmal? Ganz sicher weiß ich's nit. Kann auch bloß sechsmal sein. Oder der Hänfene des Fischbauren vom Hintersee müßt gelten als voll.« Seine Stimme wurde ernst. »Nachher wird's wohl so sein, daß jetzt der achte kommt, der gefährlich ist.« Er streckte sich. »«So in der Finsternis, das taugt mir nit. Ich muß Licht haben. Frau, ich bin ein Verläßlicher. Ich red nit aus, was ich seh.« Er nahm die Binde herunter und warf sie fort. Die Magd, die ihn hergeführt hatte, hob das Tuch vom Teppich und verschwand.

Eine große, schöne, matt beleuchtete Stube mit kunstvoll geschnitztem Getäfel, mit wertvollen Bildern auf Goldgrund, mit dem Gefunkel silberner Geräte. Gegen die Gasse lag ein mächtiges Fenster, in dessen bunten Scheiben die Wappen des Bayerlandes einen aufrechten, mit der Tatze schlagenden Löwen umgaben. Eine offene Türe führte zu einer Kammer, in der eine farbige Helle war.

Ein leerer Sessel vor einem kleinen Tisch, auf dem eine Platte mit Früchten, ein schwerer Krug und fünf zierliche Becher standen. Hinter dem Tisch eine geschnitzte Bank mit roten Polstern. Da saßen vier junge schmucke Weiblein, alle gleich gekleidet wie die Dienerinnen einer fürstlichen Frau. Jede von ihnen hatte um den Kopf einen rötlichen Schleierbund, der die Stirn, die Augen und auch das halbe Näschen bedeckte.

Malimmes guckte rasch über die vier Frauen hin, und forschend blieb sein Blick an der einen haften, die zierlicher war als die anderen; sie hatte ein rosiges, heiteres Mädchengesicht; doch die schweren, schwarzen Locken, die wie zwei starre Wände über die nackten Schultern bis zu den halb entblößten Brüsten herunterhingen, machten das kleingesichtige Köpfchen ein bißchen unförmig. Und immer betrachtete sie den Malimmes, immer lächelte sie; er schien ihr zu gefallen.

Der lange Söldner tat einen schwülen Atemzug; dann sagte er ruhig: »Da sieht man so viel schöne Sachen, daß man gar nimmer weiß, wo man hinschauen muß.« Er sah die Platte mit den Früchten an. »Das tät mir taugen. Am Abend bin ich nit zum Speisen gekommen. Da hab ich nötige Sachen erledigen müssen. Jetzt hungert mich. Darf ich zugreifen?«

Die mit den schwarzen Locken sagte: »Alles darfst du!« Die drei anderen kicherten.

»Das wär ein lützel zu viel. Man muß genügsam nach dem Besten greifen.« Er nahm die schönste Birne von der Platte, ließ sich auf den Sessel nieder und biß in die Frucht. Sie schmeckte ihm, und während er wortlos schmauste, guckte er ein bißchen spöttisch die vier jungen Frauen an. Auch gab er sich Mühe, nett und reinlich zu essen. Bevor er nach einer neuen Birne griff, säuberte er an seinem braunen Langhaar die Finger.

Mit vorgestreckten Hälsen sahen ihm die munteren Weibchen in wunderlicher Neugier zu. Immer hatten sie über ihn zu lachen. Halb war's ein Auslachen, halb ein Gekicher des Wohl- gefallens.

»Warum bist du so schweigsam?«

Ohne zu antworten, aß er eine Frucht zu Ende. Dann sagte er: »Man schwätzt nit, derweil man schluckt. Das können die Herren tun, die keiner anraunzt. Ein Knecht muß gute Sitten haben. Jetzt bin ich satt, jetzt kann ich reden. Also, ihr feinen Knösplein? Weswegen bin ich da? Man wird's mir sagen müssen.« Er schmunzelte. »Selber komm ich nit drauf.«

»Du sollst uns erzählen, warum man dich siebenmal gehangen hat.« Immer sprach nur die Schwarzgelockte. »Und wie du, siebenmal wieder lebendig wurdest. Willst du?

»Meintwegen! Aber bloß ein Karren pfeift, wenn er trücken ist. Ein Mensch, der reden soll, muß den Schnabel feuchten.«

Alle viere griffen nach dem Krug. Die mit den schwarzen Locken sagte: »Ich will ihm geben.« Sie füllte die kleinen Becher.

Als vier Becher gefüllt waren, stülpte Malimmes den fünften um. »Die taugen für eure dünnen Hälslein. Ich hab noch nie aus einem Fingerhütl getrunken. Ich nimm den Krug.«

Ein heiteres Lachen. Und die Schwarze sagte lustig: »Nein, du Genügsamer! Für uns soll auch noch bleiben.« Sie glitt zur Wand hinüber und streckte sich, um von dem Bord mit dem Silbergerät einen getriebenen Kupf herunterzunehmen. Dabei sah man, wie leicht sie gekleidet war.

Malimmes bekam eine Furche auf der Stirn und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, versuchte er zu lachen und nahm den großen Becher, den man für ihn gefüllt hatte. Ein leichtes Beben war in seiner Stimme: »Euch zum Wohlsein, ihr feinen Frauen! Auf alles Gute und Schöne der Welt! Dessen ist so viel, daß man nit greifen muß nach dem Schlechten. Wer's tut, soll hängen.« Er hielt ihnen mit der eisernen Faust den Becher hin, den sie ein bißchen verwundert und ein bißchen erregt mit den kleinen Kelchen antippten. Zuerst nahm Malimmes nur einen kurzen Schluck, um zu kosten. »Teufel! Ist das einer!« Er leerte den Becher mit einem flinken Sturz und lachte: »Der kann einen Heiligen um die fromme Seel betrügen und einen Sünder um die letzte Reu.« Die Hand streckend, fragte er, in der Stimme ein heißes Betteln: »Also, krieg ich noch einen?«

Unter übermütigem Lachen füllte ihm die Schwarzgelockte den Silberkupf; die drei anderen wurden ängstlich, guckten einander an und hätten es gern gehindert.

Malimmes merkte ihre Sorge. »Um meinetwegen, ihr feinen Knösplein, müssen euch nit die Graushaar wachsen. Mich hat noch kein Roter und kein Weißer umgeschmissen. Meine Seel bleibt hell.« Er leerte den tiefen Kelch, als wär's eine Haselnußschale. »Das ist gewesen wie ein Tröpfl auf glühendem Ofen.« Die Schwarze, deren Lachen einen seltsam gereizten Klang bekam, füllte ihm gleich den Becher wieder. Er sah den dunkel rinnenden Strahl des Weines an. »Den hab ich noch nie gekostet. Wie heißt denn der?«

Sie neigte sich flüsternd zu ihm: »Lacrimae Christi, Tränen des lieben Herrn.«

Die Augen des Malimmes wurden groß. Er hielt den vollen Becher vor sich hin. »So ist's ein billiger. Weil's mehr von ihm geben muß als Wasser und Blut. Das ist ein Jahr gewesen, in dem der liebe Herr hat weinen müssen vom ersten Morgen auf dem Hängmoos bis zum heutigen Abend bei der Steinernen Bruck.« Er stand vom Sessel auf, hob den Kelch und sah zur Stubendecke: »Du lieber Herr, schau her, ich trink, daß du bald wieder lachen sollst!« Er schlürfte den Wein mit ruhigen Zügen. Und stellte den Becher auf den Tisch. Und als die wunderlich erregte Schenkin den Krug wieder heben wollte, sagte Malimmes streng: »Nit, schöne Frau! Heut trink ich keinen Tropfen nimmer!«

Sie reichte den Krug den drei anderen hin, trat flink auf den langen Söldner zu, streckte sich, hob den Arm, dessen weiter Ärmel bis zur Schulter fiel, und während in ihrem halbverhüllten Gesicht eine heiße Spannung war wie im Gesicht eines Kindes, das einen seltenen Schmetterling gefangen strich sie mit dem Finger langsam und zart über die große Narbe herunter.

Das kitzelte den Malimmes, daß er sich schütteln mußte. Er sagte mit einer tollen Lustigkeit: »Gotts Tod! Wenn die Leut mich hängen das achtemal, und ich bleib im Hanfsamen und rühr mich nimmer, schöne Frau, da müßt Ihr kommen mit Eurem Fingerlein. Und ich steh wieder auf.« Er strich mit dem Arm über seine Stirn und warf sich lachend in den Sessel. »Guck, ich vergiß ja schier, weswegen ich da bin. Und daß ich erzählen muß! Ich will doch die Tränen des lieben Herrn nit umsonst genossen haben. Also!« Er zog das rechte Bein übers linke Knie herauf. »Wie ich zum erstenmal hab hängen müssen, das ist im Ungerland gewesen « Dieses hänfene Abenteuer berichtete er so ähnlich, wie er's im Ramsauer Leuthaus erzählt hatte, damals, als er wider Willen die Traudi mit Herz und Leib gewonnen. Doch alles hatte jetzt einen noch heißeren Puls, ein tieferes Grauen, eine wildere Freude. Die zierliche Frau mit den schwarzen Locken bekam schon bei dieser ersten Geschichte vor prickelndem Schauder ein leises Zähneschnattern.

Als Malimmes den zweiten Hänfenen an den Eichbaum im Clevischen knüpfte, wurden die lauschenden Weiblein zappelig vor Neugier nach der bösen Sünde, durch die er des Rappenholzes schuldig geworden. Sie baten, wurden ärgerlich, reizten ihn durch Spott und wollten ihm die Wahrheit abschmeicheln. Er schüttelte lachend den Kopf. »Und nit ums Leben! Ich sag's nit. Und nit um euren süßen Leib. Das Ding ist grauslich gewesen. Ich tat mir lieber die Hand abhacken, eh daß ich was Schieches hinlegen möcht vor eure lieben, sauberen Füßlein.« Und während sie noch baten und schmeichelten, erzählte er schon weiter, ließ den Blitz mit Gerassel herunterfahren in den Eichbaum und malte den Heiligenschein, der die Sünde des Malimmes umlodert hatte, mit so schaudervollem Humor, daß die Frauen stumm wurden und sich zitternd aneinanderhuschelten. Dann wandelte die lustige Geschichte vom Ulmer Schragen und vom ungeschickten Freimann ihr abergläubisches Gruseln in heiteres Gelächter. Und als er vom Wolf erzählte, der den mageren Schultheiß zu Landshut fraß, vom empfindsamen Henker, der das Frieren nicht vertrug, und von der Schlittenfahrt auf dem dünnen Hosenboden, spickte er das Bild des kleinen, verdutzten Herzogs mit den Kletten eines so beißenden Spottes, daß die Zierliche vor Freude und Lachen ganz närrisch wurde.

Nun rauschte die Ramsauer Ache. Und es zitterte ein weher Ton durch die übermütige Lustigkeit des Malimmes, als sein Bidenhänder die fliegenden Eier in der Luft zerschnitt und als der schlechte Reusenstrick des Fischbauern vom Hintersee entzweisprang wie eine kraftlose Saite bei verrücktem Spiel.

»Das will ich sehen!« bettelte die junge Frau wie eine Fiebernde. »Das mußt du mir zeigen. Willst du? Willst du?«

Er lachte rauh. »Einer schmucken Frau tut man alles zulieb.«

Ihr Stimmchen zitterte. »Komm her zu mir! Knie nieder vor meinem Schoß! Ich will die Schlinge machen. Ich lege sie um deinen Hals. Dann mußt du wieder auferstehen. Willst du? Willst du?«

Malimmes nickte und ließ sich niederfallen. Immer lachte sie, war wie eine hübsch Betrunkene, und während sie die Gürtelschnur an ihrem leichten Kleide löste, wies sie die anderen Frauen mit einem herrischen Wink aus der Stube.

Er hörte die leisen Schritte und das Rauschen der Gewänder. Seine Augen wurden klein. Doch er wandte keinen Blick. Mit einem sonderbar starren Lächeln sah er an der zarten, heiß erregten Frau hinauf. Und als sie ihm mit bebenden Händen die Schlinge der Gürtelschnur um den Hals legte, beugte er den Kopf zurück, wie in Sorge, daß ihre Brüste sein Gesicht berühren könnten.

»Darf ich?« fragte sie mit der Ungeduld eines glühenden Kindes und wollte die Schlinge straffen.

Da faßte er die Schnur mit den Fäusten und lachte müd, während ihm das Gesicht wie Feuer brannte. »Ein lützel langsam! Das ist der achte. Der könnt mir gefährlich werden. Da muß ich Fürsicht üben. Und für den Fall, daß der Spaß heut schief geht da möcht ich mich erst noch ledig machen von meiner Pflicht. Ich muß doch erst erzählen vom sechsten und vorn siebenten Hänfenen. Nit?« In seinen Worten war etwas so Unheimliches, daß die junge Frau erschrocken vor ihm zurückwich und schlaffe Hände bekam. »Das sechstemal, das ist zu Berchtesgaden gewesen. Da haben sie mich hängen wollen, weil ich ein Esel war. Und einer hat mich gelöst. Dem hab ich's teuer bezahlen müssen.« Seine Stimme zerbrach. »Und das siebentemal, das ist bei Dachau geschehen. Da war ich von Herzen gern gestorben, schöne Frau!«

Sie fragte leise: »Warum?«

»Weil ich am selbigen Tag so arm geworden bin wie eine Maus, der man die Kirch verbronnen hat. Und da hat mich ein Grausamer wieder herausgerissen ins Leben. Ich hab's ihm nit gedankt. Aber seit heut am Abend weiß ich, warum es sein hat müssen. Bei allem Harten ist ein Gutes.« Er machte eine Bewegung, wie um etwas Schweres von sich abzuschütteln. »Und jetzt? Wenn's dumm geht? Soll ich mich da erwürgen lassen von Eurer spaßigen Lust? Da müßt mir leid sein um Eure weißen Fingerlein! Auch möcht ich noch leben, bis ich auf der Welt ein rechtschaffenes Ding getan.« Durch eine Drehung der Fäuste sprengte er die feste, mit Silber durchwobene Schnur entzwei, ließ die Stücke auf den Teppich fallen und lachte ein bißchen.

Stumm betrachtete sie den Unbegreiflichen. Seine wunderlichen Worte waren dunkle Rätsel für sie gewesen. Doch im Klang seiner Stimme war eine Macht, die sie empfand. Und ganz verstand sie die brennende Marter in seinen Augen. Rasch sich vorbeugend, nahm sie sein Gesicht zwischen ihre Hände und wollte ihn küssen. Er faßte ihre Handgelenke und schob sie zurück. »Nit, schöne Frau! Auf die Letzt ist jeder ein schwacher Mensch. Auch der Stärkste.« Schwül atmend erhob er sich und gab ihre Hände frei.

Seinen Kampf erkennend, fragte sie lächelnd: »Mißfall ich dir?«

Er schüttelte den Kopf. »So ein feines Weibl hab ich im Leben nit oft gesehen.« Und ganz leise: »Nur ein einziges Mal.«

»Heute?« Weil er nicht antwortete, streckte sie die Hand zu seiner Schulter hinauf und schmiegte sich an ihn. Und als er so unbeweglich blieb wie ein hölzerner Pfahl, griff sie nach seinem ergrauenden Bart, zupfte ein bißchen und fragte scherzend: »Du? Bist du kein Mann?«

»Das bin ich mehr, als mir lieb ist. Ein Jahr lang hab ich hart gehungert. Jetzt ist alles in mir wie böses Feuer. Vom Hirn bis hinunter zu meinen Sohlen brennt ein siedender Durst nach Eurem Leib.«

Sie fragte gleich einem verwunderten Kinde: »Warum nimmst du mich nicht?«

»Weil ein Mannsbild, das sein Blut nit in der Faust hat, minder ist als ein Vieh.« Seine Augen wurden ruhig. »Und weil ein deutscher Bauer seinen König nit verschimpft.«

Erschrocken fuhr sie zurück und knirschte: »Wer hat dir verraten, wo du bist?«

Malimmes lachte leis. »Ui, mein, Frau Königin! Ich bin doch kein heuriger Has nit. Ein Tüchl macht zwei gute Augen nit blind. Und Ohren hat man doch auch. Und man weiß, was echt und was falsch ist. Möget Ihr nit die fremden, wüsten Haar ein lützel heruntertun? Bitt schön, Frau Königin, lasset einen armen Teufel anschauen, wie schön Ihr seid!«

Schweigend streifte sie den Schleierbund und die schwarze Perücke fort. Das kupferrote Geringel fiel ihr um das heiße Gesicht. Und als sie die Freude in seinen Augen sah, wurde sie verdrießlich und klagte in Zorn: »Du bist ein Narr! Soll ich dir sagen, wo mein Gemahl sich belustigt? In dieser Nacht?«

Gleich verstand er. »Das müßt Ihr ihm abgewöhnen, Frau Königin! So was ist nit gesund. Und tut man's in der Nacht mit Lachen, so kommt am Morgen das Grausen.« Eine Weile standen die beiden stumm voreinander, bis Malimmes in Unbehagen sagte: »Jetzt darf ich wohl gehen? Nit?« Er schritt zur Türe.

Rasch vertrat ihm Frau Barbara den Weg und sah ihn mit glänzenden Augen an. »Ich bin ein verdorbenes Geschöpf. Wären die Männer wie du, wir Frauen wären Heilige.«

Sie hatte das so ernst gesagt, daß er lachen mußte. »Frau Königin, das glaub ich nit recht.«

Heiß fragte sie: »Willst du mir dienen?«

Malimmes schüttelte den Kopf und sagte heiter: »Nit ums Leben! Da könnt's noch schieche Sachen absetzen.« Er wurde ernst. »Ich bin schlechter dran als wie die andern. Jedweder Mensch hat einen doppelten Weg zur Wahl. Der eine geht zur Sonn und der ander zum Unrat. Ich hab bloß einen. Der Weg zur Sonn ist mir vermauert. Und im Unsauberen leidt's mich nit. Muß ich halt zwischendurch.«

Nun hatte die Königin wieder ganz die Augen eines verwunderten Kindes, das ratlos ein unbegreifliches Ding betrachtet. Und schweigend und traurig stand sie, während Malimmes den Saum ihres seidenen Ärmels küßte und zur Türe ging. Bevor er die Klinke niederdrückte, sah er die kleine, zierliche Frau noch einmal an. Er hörte sie noch leise sagen: »Wir sehen uns wieder!« Dann verließ er die reiche Stube.

Draußen beugte er tief den Kopf herunter, um das Knüpfen der Tuchbinde zu erleichtern. »So! Jetzt bin ich wieder ein blinder Ochs!«

Die Magd verließ mit ihm das Haus. Auf dem Haidplatz hörte Malimmes einen Arbeitslärm von vielen Menschen, das Hämmern, Sägen und Hobeln der Handwerksleute, die für das feierliche Friedensfest den Thronhimmel des Königs bauten, die Hochsitze für die Fürsten und die Schranken für das Volk.

Man schanzte und schaffte da die ganze Nacht. Das Brettergerüst wurde beim Flackerschein der Fackeln mit rotem und gelbem Tuch beschlagen. Die Arbeitsleute, die ihren Bürgerschlaf für eine prunkvolle Bekundung des Friedens opferten, bekamen Freiwein und gerieten in schwatzlustige Stimmung. Sie machten unziemliche Scherze, als bei grauendem Morgen ein Häuflein lärmender Nachtschwärmer von Flötenbläsern und Lautenschlägern heimbegleitet wurde. Daß ein hochgewachsener Mann und eine taumelnde Zwergengestalt beim Gumbrechtischen Hause verschwanden, bemerkte niemand. Doch einen unfreundlichen Zusammenlauf der Arbeitsleute gab es beim hochtürmigen Hause der Weltenburger, wo man einen Mißgestalteten, der ein von Rotweinflecken verwüstetes Hofkleid trug und schwer betrunken war, gewaltsam zur Ruhe bringen mußte. Er hatte einen Anfall von Krämpfen, schlug mit den Fäusten um sich, und immer schrillte seine dünne Stimme: »Wenn ich Herzog bin wenn ich Herzog bin «

Im ersten Weiß des Morgens bekamen die Gerüste, die man auf dem Haidplatz aufgeschlagen hatte, ein festliches Ansehen. Der Thron des Königs und die Hochsitze der Fürsten wurden mit Wappen behangen, mit Standarten und Laubgewinden geschmückt.

Bei Aufgang der Sonne bezogen zwölf junge Ritter im Gumbrechtischen Hause die Ehrenwache vor den Zimmern des Königs und der Königin und vor der unruhigen Amtsstube des Kanzlers Schlick. Weil die zwölf aus dem Geleit aller Fürsten und Prälaten gewählt waren, die einander bekriegt hatten und sich heute versöhnen sollten, fanden sie für sich selbst den scherzhaften Namen: die zwölf Friedensengel.

Für den heiligen Peter von Berchtesgaden war Lampert Someiner da. Er stand mit drei anderen bei der Türe des Königs, mit dem Ellbogen auf den Knauf des blanken Eisens gestützt. Für das leise Geplauder seiner Gesellen hatte er kein Ohr. Immer sah er in das flimmernde Sonnenband, das durch ein hohes Spitzbogenfenster in den gewölbten Treppengang hereinfiel. Draußen kam ein schöner und reiner Tag. Da funkelte wohl heut die gleiche milde Herbstsonne auch über den blauen Bergen seiner Heimat? Und über der Straße von Salzburg nach Berchtesgaden? Während Lampert in die Sonne guckte, sah er immer diese Straße und einen kleinen, eilig trabenden Reisezug von vierzehn Gäulen.

Am verwiesenen Abend mußte Jula zu Salzburg eingetroffen sein, auf ihrem Falben, mit dem Knechte, der den zärtlichen Ingolstädter ritt, und mit den zwölf Geleitsreitern, die Lampert zu München angeworben hatte. Durch das schwarze, kahlgebrannte Land von Plaien und über den Trümmerhaufen des Hallturms hatte er seine Jula nicht reisen lassen. Um dieses Grauenvolle nicht zu sehen, mußte sie den Umweg über Salzburg nehmen. Und weil der Morgen so klar und sonnig wurde, war sie wohl schon vor Tag von Salzburg aufgebrochen? Da mußte sie um die siebente Morgenstunde nach Berchtesgaden kommen um diese siebente Morgenstunde, vor der die abergläubisch gewordene Frau Marianne bei jedem Tageserwachen aufs neue zitterte.

Lampert lachte vor sich hin. Die anderen, die mit ihm die Wache hielten, guckten ihn verwundert an.

Das merkte er nicht. Immer sah er nur die schöne, von der Morgensonne umglänzte Straße zwischen der Gadnischen Ache und dem Untersberg. Sah diese schlanke Reiterin im graugrünen Reisemantel auf dem rasch und zierlich trabenden Falben. Sah die Türme und Firste von Berchtesgaden, sah den Marktplatz, auf dem viel weniger Menschen als im Sommer vor einem Jahr zur Messe gingen, und sah das stillgewordene Amtmannshaus mit den in der ersten Sonne blinkenden Erkerscheiben.

Die Mutter ist schon wach. Frau Marianne ist eine fleißige Frühaufsteherin. Noch immer, obwohl das Trauerjahr schon zu Ende gegangen, ist sie schwarz gekleidet. Aber Glockenschürze, Ärmelschoner und Morgenhäubchen machen sie ganz weiß. Wie an jedem Tage, so denkt sie auch heute, seit sie die Augen aufgetan, immer und immer an ihren Buben. Und bei der Frühsuppe, die sie einsam löffelt, guckt sie immer wieder mit ihrem Sorgenblick zu dieser schrecklichen Uhr hinauf, die sie lieb hat und hassen muß. Im alten, hohen Pendelkasten immer die gleiche Stimme: »Bau! Bau! Bau!« Und gleich wird der Hammer schlagen, siebenmal. Und wie an jedem Morgen, so denkt Frau Marianne auch jetzt in Zittern: »Ob heut das Unglück kommen wird? Um die siebente Morgenstund?«

Vom groben Pflaster des Marktplatzes klingt das Gehämmer vieler Hufe herauf. Die Rosse halten vor des seligen Amtmanns Haus. Erschrocken springt Frau Marianne zum Erker, stößt das Schubfensterchen in die Höhe, fährt mit dem Kopf in die Morgensonne hinaus und schreit beklommen: »Jesus! Was ist denn?«

Da drunten beugt eine Reiterin in graugrünem Mantel den Kopf zurück. Dichtes Haar quillt aus der dunklen Gugel heraus. Und zwischen den schwarzen Strähnen sieht Frau Marianne ein schmales, sonnverbranntes Mädchengesicht mit der Leidensschrift eines bösen Jahres in den strengen Zügen, mit scheuer Freude im Blau der großen Augen. Und eine linde, von der Aufregung ein bißchen zugeschnürte Stimme ruft von da drunten zum Erker herauf: »Gute Botschaft von Eurem Sohn!«

»Jesus!«

Das gleiche Wort, das vor wenigen Sekunden ein Laut des Schreckens war, ist jetzt der Schrei eines heißen Jubels. Und Frau Marianne obwohl ihr das vergangene Jahr ein Bleigewicht auf alle Gelenke legte, fährt wie ein junges Mädel zur Stube hinaus und über die Treppe hinunter. Und drunten im Hausflur steht sie ratlos und starrt betroffen auf das schlanke Mädchen, das die Gugel des Reisemantels zurückstreift in den Nacken und leise sagt: »Kennet Ihr mich nimmer, Frau? Ich bin der Bub gewesen, dem Ihr das Eisenhütl gegeben habt. Jetzt soll ich die Ehfrau Eures lieben Sohnes werden.«

Frau Marianne steht noch immer stumm. Nun fängt sie zu lachen an. Und mit beiden Händen muß sie nach ihren Knien greifen, die befallen sind von einem heftigen Zittern. »Ich muß mich niederhocken ein lützel.« Sie taumelt zur Steinbank im Hausflur und wird umschlungen von einem jungen Arm, der zärtlich und stark ist.

– Klirrende Schritte im Treppenflur des Gumbrechtischen Hauses und zwei erregte Stimmen. Lampert Someiner war aufgerüttelt aus seinem Sonnentraum. Er straffte sich und machte mit dem blanken Eisen die höfische Reverenz vor dem Markgrafen von Brandenburg und dem Kanzler Schlick.

Die beiden hatten gut ausgeschlafene Gesichter, doch Augen voll Sorge. Mit dem Morgen war böse Zeitung gekommen. Draußen vor dem Ostentor geschah, was die Stadtväter vor dem Kanzler nicht länger zu verschweigen wagten: Im Geläger der vierzigtausend, die trunken waren vom Freiwein des gütigen Königs, fielen die pestkranken Menschen um wie Fliegen nach einer kalten Nacht. Doch an solche Dinge war man gewöhnt seit vielen Jahrzehnten, seit der schwarze Tod ein seßhafter Bürger im Reich geworden. Das war die mindere Sorge. Was den Kanzler bewegen hatte, den Markgrafen aus der Morgenruhe aufzustören und zum König zu rufen, war eine schwere Kunde, die aus weiter Ferne gekommen Botschaft von gewaltigen Rüstungen des türkischen Sultans Murad wider Siebenbürgen und Ungarn und die Botschaft, daß die Hussiten mit zahllosen Heerschwärmen verwüstend aus den böhmischen Wäldern herausbrachen in die oberpfälzischen Lande. Sie äscherten Städte und Dörfer nieder, zerstörten Kirchen und Klöster, verbrannten die Priester, die sie fingen, erwürgten die Herren, die in ihre Hände fielen, predigten dem Volk alle Freiheit und sprachen es los von der Pflicht des Gehorsams gegen Papst und Fürsten.

Friedrich von Zollern und der Kanzler betraten die königlichen Gemächer. Durch einen prunkvollen Raum, in dem der Haarkräusler des Königs seine wohlriechenden Siebensachen aus einer Tasche kramte, kamen die beiden in die große Schlafstube. Hier stand eine neue, kupferne Badewanne, in der das heiße Wasser qualmte. Das große Himmelbett war in die Mitte der Stube gerückt, und auf den roten Seidenkissen lag entblößt der König, dem zwei weißgekleidete Badmägde die Gelenke kneteten. Um das mit Salbe belegte Gesicht war ein dicker Bausch von heißer, dampfender Leinwand herumgebunden. Unter diesen Tüchern fragte Sigismund mit erloscherfer Stimme: »Schlick? Bringst du ihn?«

Statt des Kanzlers antwortete Fritz von Zollern: »Ich stehe vor der Majestät.«

»Was sagst du zur üblen Zeitung dieses Morgens?«

»Man hat gesät. Da müssen die Ähren kommen, wie der Same war.«

Der König machte eine mißmutige Bewegung. Dann befahl er den Mägden: »Hebt Uns in die Wanne! Und verlaßt Uns!«

Die Mägde schoben ihm ihre roten Arme unter Rücken und Knie, trugen die Majestät zur Wanne, hoben sie vorsichtig in das duftende, mit Rosenessenz gefärbte Wasser und erneuerten noch den Dunstumschlag auf dem Gesicht; dann verschwanden sie.

Die Haltung des Badenden war sehr anmutsvoll. Doch weil das Wasser immer schwankte, schien der schöne Mannskörper, der nur wenige Spuren des beginnenden Alters zeigte, unablässig in weiße, rotgeränderte Stücke zerrissen zu werden. Und der gesichtslose Kopf, um dessen dampfenden Leinwandbausch die verwüsteten Braunlocken wirr herumhingen, hatte etwas Unheimliches.

Fritz von Zollern betrachtete in stummer Trauer den Beherrscher des Heiligen Römischen Reichs.

»Unsere Geduld ist erschöpft«, sagte der König unter den dunstenden Tüchern, »Wir gedenken dieser böhmischen Tollheit ein rasches Ende zu bereiten.«

»Wenn das so schnell geschehen könnte, wie es gesagt wird!«

»Wir mußten Lehrgeld bezahlen.« Sigismund lachte. »Jetzt kennt man ihre neue Art, zu fechten.« Während er so redete, spielten seine schönen Hände mit dem rosigen Wasser. »Wir stellen hundertzwanzigtausend Helme ins Feld, die Wir deiner bewährten Führung anvertrauen.«

Der Markgraf schob die Lippen vor und schwieg.

Unwillig fragte die Majestät: »Besinnst du dich?«

»Ein wenig, ja. Sichere Hiebe sind kein erquicklich Ding.« Da hob der König rasch den Kopf mit der augenlosen Leinwand. »Du? Der immer Starke, immer Gläubige? Seit wann bist du ein Ängstlicher geworden?«

»Das bin ich nicht. Aber eh zwei Kräfte sich messen sollen, muß man sie wägen. Die Schalen stehen ungleich. Bei uns ist Zerwürfnis, Hader und Widerspruch, ein zerrissener Leib und eine versumpfte Seele. Die Gegner haben ein Ziel, nach dem sie brennen, einen führenden Gedanken und einen reinen, unerschütterlichen Glauben, der ihre Kräfte in Stahl verwandelt.«

»Fritz!« Die augenlose Majestät tauchte bis über die halbe Brust aus dem rosigen Wasser. »Bist du ketzerisch angekränkelt von der böhmischen Luft?«

»Ich? Nein. Oder jedes aufrichtige Wort ist Ketzerei. Man braucht kein Gärtner zu sein, um zu wissen, was gesunder Kohl ist. Und man kann auch ein Christ bleiben und dennoch der Meinung sein, daß im Garten Petri viel übles Unkraut wuchert. Man liebt es, die Böhmen kranke Köpfe zu nennen. Aber Fieber ist keine Krankheit, nur Wirkung einer Ursach. Die müßte man heilen. Die Hussiten bekehrt man nimmer. Will man sie nicht zu verstehen suchen, so muß man sie alle totschlagen. Und schlägt man sie alle tot, so wachsen neue nach, mit anderen Worten und mit frischen Zungen, die gegen die kranke Ursach reden.«

Der König, mit einer völlig veränderten Stimme, sagte heiter: »Wir waren töricht in dieser Nacht. Ein schwerer Kopf ist undankbar für große Weisheiten. Wir verstehen nicht, was du meinst.«

»Das läßt sich sagen mit einem kurzen Wort. Ich will die Fahne wider die Böhmen führen, wenn ich nur zu schlagen brauche im Notfall und unbeschränkte Vollmacht habe, mit den Hussiten zu verhandeln.«

»Verhandeln?« Sigismund schien nachdenklich zu werden. »Was soll bei solchem Handel zutage kommen?«

Mit schwerem Ernst beugte sich der Markgraf gegen das blinde Gesicht des Königs: »Vielleicht ein Weg, auf dem wir in Deutschland die Kirche deutsch und einig machen.«

Ein langes Schweigen. Nun ein leichtes Geplätscher in der Wanne. Und belustigt sagte Sigismund: »Mancher wird heute Ursach haben, saure Fische zu essen. Du wirst beichten müssen.«

Dem Markgrafen ging es heiß über die Stirne. Doch ruhig sagte er: »Ich fühle mein Gewissen nicht beschwert. Die Majestät möge meinen Rat bedenken. Jetzt kommen die Böhmen. Hinter ihnen die Türken und Heiden. Sie niederzuwerfen, wäre für die eingeborene Kraft des Reiches ein Kinderspiel. Aber der deutsche Riese hat viele Nächte voll ungesunder Torheit hinter sich. Saure Fische helfen ihm nimmer. Soll er vor den Dingen, die kommen, nicht in Schwäche zittern, so muß man ihm die Stirn mit Feuer salben, die Augen sehend machen und den erschöpften Leib in erfrischenden Gedanken baden.«

Nach kurzem Schweigen schob der König mit einer anmutsvollen Armbewegung den Leinenbausch über die Stirne hinauf. Sein edles Gesicht war ohne Runzeln und hatte rosige Farben. »Hochgeborener Herr Markgraf!« Er lächelte. »Euch verdanken Wir viel. Unser Dank hat Euch emporgehoben zum Mut dieser Stunde. Manches mögen Wir Euch gestatten. Nicht alles!« Mit beiden Händen faßte Sigismund die Kanten der Kupferwanne. »Wo sind die Mägde? Unser Bad ist kühl geworden.«

Fritz von Zollern öffnete die Tür und rief in den anstoßenden Raum hinaus: »Ihr! Heda! Flink! Die Majestät muß frieren.«

Die zwei Mägde und der Haarkräusler waren rasch zur Hand, sorgten für neue Wärme und wuschen dem König die von einer törichten Nacht verwüsteten Locken.

Gegen die neunte Morgenstunde begannen alle Glocken der Stadt zu läuten, um den jungen Frieden der bayerischen Lande zu grüßen, den diese Stunde gebären sollte. Die Fürsten und Prälaten, mit ihnen die Bürgermeister der freien Städte und der herzoglichen Residenzen, kamen zum Gumbrechtischen Hause, um die Majestät in feierlichem Zuge nach dem Stadthaus zu geleiten. Mancher von den edlen Herren sah sehr ungemütlich drein, nicht aus politischen Gründen. Der kleine Herzog von Bayern-Landshut hatte ein Gesicht, das einer grünen Olive glich; er litt, obwohl er nicht unmäßig getrunken hatte, an einem Katzenjammer, bei dem er jedes Haar auf seinem gesalbten Haupte wie einen giftigen Nadelstich empfand.

Der Haidplatz war erfüllt von einer drängenden Volksmenge, die den freundlich grüßenden König mit stürmischer Zärtlichkeit umjubelte.

Und immer war das Stadthaus von Stimmengebraus umgeben, während im großen Ratszimmer hinter verschlossenen Türen um den Frieden gehandelt wurde. Es ging da drinnen sehr lärmvoll zu, und die erregten Stimmen wuchsen immer kräftiger, während im Vorraum die Tische zu einem Erquickungsmahl gedeckt und mit leichten Weinen, mit gesäuerten Getränken, geräucherten Saiblingen, gesulzten Renken und mit Bratwürstchen auf Sauerkraut bestellt wurden. Das alles duftete sehr einladend, und mancher von den edlen Herren kam schon aus dem Ratszimmer heraus, noch ehe der erste Teil der Verhandlung erledigt war: die Schlichtung des persönlichen Streites zwischen den Herzögen Heinrich und Ludwig wegen des Konstanzer Überfalles.

Der Ingolstädter war im Zorn der Stunde wie ein gereizter Tiger und stellte maßlose Forderungen: »Man soll den fahrigen Mörder Heinrich aller Ehren und Würden entkleiden und soll ihn richten nach dem Spruche: Aug um Auge, Zahn um Zahn! Man soll ihm sieben Wunden an seinen Leib machen, darunter zwei auf den Tod. Und man soll ihm die Hand abhacken, mit der er nach unserem fürstlichen Leib gestochen.«

Herr Heinrich, in der Bitterkeit seines hämmernden Katzenjammers, antwortete klagend: »Unser edler Vetter Loys verlangt der gerechten Dinge so viel, daß wir in Sorge um sein kostbares Dasein geraten. Menschen, die des Guten auf Erden zu viel begehren, leben nicht lange.« Mit diesen Worten brachte er die Lacher auf seine Seite, nachdem der Ingolstädter durch das Übermaß seiner Forderungen die Herren gröblich verstimmt hatte.

Der König entschied unter dem Beifall des Fürstenrates: Herzog Heinrich soll zur Sühne seiner unvetterlichen Tat sechshundert Helme wider die Hussiten stellen, einen Kriegszug gegen die Heiden unternehmen, eine bußfertige Wallfahrt nach Rom machen, drei ewige Messen stiften, dem Vetter Loys alle Kurkosten ersetzen und ihn vor König, Fürsten und Volk um Gottes und unserer lieben Gottesmutter willen demütig um Verzeihung bitten. Der kleine Herzog beeilte sich, zu erklären: »Wir beugen uns dem Urteil der weisen Majestät.«

Herzog Ludwig schrie mit einem Auflachen seines Hohnes in den Saal: »Man ehrt mich über Gebühr und hält mich für kostbarer als unseren Herren Christum. Der ward um dreißig Silberlinge verraten. Mich verkauft man um dreißigtausend Dukaten.«

Bei dem Lärm, den der Aufbruch zum Frühstück verursachte, schien niemand diesen Zornschrei zu hören. Alle schwere Stimmung war plötzlich verwandelt in schwatzende Heiterkeit. Während im Vorraum die Tische sich füllten, standen die Herzöge von München mit dem Brandenburger abseits in ernstem Gespräch. Im Ratszimmer war nur Herzog Ludwig mit seinem getreuen Kaspar Törring zurückgeblieben, der in Zorn die irdische Gerechtigkeit eine feile Metze schalt und die Welt als würdig eines baldigen Untergangs erklärte.

Um alle Folgen der törichten Nacht zu dämpfen, frühstückte die Majestät sehr reichlich. Herzog Heinrich, der außerhalb seines Schlosses zu Burghausen niemals ohne Vorkoster speiste, berührte den Imbiß nicht, obwohl eine heftige Sehnsucht nach sauren Dingen in seinen Augen war. Sehr aufmerksam betrachtete er den König, dem die duftenden Würstchen trefflich zu munden schienen. Und leise fragte der kleine Herzog: »Fürchtet die Majestät nicht, vergiftet zu werden?«

»Nein! Unsere Brüder sind tot.« Der König lachte. »Auch sind Wir unempfindlich gegen Gift geworden. Übung gewöhnt den Körper an alle Dinge.« Heiter erzählte er von mannigfachen Giften, die man ihm schon verabreicht hatte, und von der scharfsinnigen Kur eines schwäbischen Arztes. Der hatte den im Lager vor Znaym vergifteten König durch vierundzwanzig Stunden bei den Füßen aufhängen lassen, bis das genossene Gift durch Mund und Nase völlig abfließen konnte! »Das war nicht lieblich. Aber hilfreich.« Nach dieser Erzählung sprach die Majestät sehr fleißig wieder dem Sauerkraut und den Würstchen zu. Aber vielen an des Königs Tafel war die Lust zum Essen vergangen.

Unter dem betretenen Schweigen, das am Tische herrschte, sagte plötzlich ein Regensburger Ratsherr: »Eure Majestät schneiden die Würstlein in die Quere. Das ist nicht empfehlenswert. Ist das Würstlein in die Quer gebröckelt, so beißt man beim Speisen auf die Haut und hat den minderen Geschmack. Man muß es nach der Länge schneiden und mit dem Fleisch auf die Zunge legen.«

Am Tisch erwachte ein heiteres Lachen. Alle griffen von neuem zu, versuchten die ratsame Sache, nickten zustimmend mit den Köpfen, und die Majestät sagte freundlich: »Wir danken Euch, Ehrenfester! Unser Dasein ist um eine köstliche Weisheit bereichert. Ihr seid ein Meister in der Kunst zu leben.«

Während dieses Frühmahls erfuhr der Propst des heiligen Zeno, Herr Konrad Otmar Scherchofer, eine kleine Überraschung. Der Kanzler Schlick beschenkte ihn mit einem schön und zierlich beschriebenen Pergament. Es war ein Brief, in dem sich Franzikopus Weiß bei Sigismund um einen Bischofsstab bewarb und sich erbötig machte, das Zenonische Land und Volk der Hausmacht des Königs anzugliedern. »Das wäre ein schlechter Handel«, sagte Herr Konrad Otmar, »von meinem Volk und Land ist weniger übrig geblieben, als von aufgespeisten Fischen zu bleiben pflegt.« Er besah den Brief und wurde heiter. »Dieser Heilige riecht nicht gut. Ich will ihn mit Wohlgerüchen waschen lassen.«

Die Majestät erhob sich und gab das Zeichen zum Neubeginn des Fürstenrates.

Während die edlen Herren sich schon im Ratszimmer zu sammeln begannen, trat der schwere Bürgermeister von Landshut auf den kleinen Herzog Heinrich zu, und um die Treue der guten Stadt zu erweisen, erbot er sich, dem gnädigen Herrn die Wallfahrt nach Rom abzunehmen, mit zwölf angesehenen Bürgern durch Italien bis zur Peterskirche zu reiten, dort inbrünstig zu beten und kostbare Spenden zu Füßen des heiligen Apostels niederzulegen.

»Nein!« Herr Heinrich preßte die Hand an den schmerzenden Hinterkopf. »Das kostet schweres Geld. Laßt unser Geld im Lande bleiben! Warum wollt ihr's nach Rom tragen? Beten kann man in Landshut auch. Die Wallfahrt nach Rom weil es schon sein muß soll einer machen. Einer, der nichts versäumt. Der muß sich durchbetteln. Sonst wäre das kein frommes Werk, das wohlgefällig vor Gottes Augen ist. Stiftungen macht man vor dem Gelingen. Nach dem Gelingen behält man, was Gott so wollen hat.«

Im Fürstenzimmer begann schon wieder der gleiche aufgeregte Lärm, wie er vor dem Imbiß geherrscht hatte. Kaspar Törring wollte bei König und Reich um seiner erschlagenen Hunde willen Klage führen. Man mußte dem Erbitterten bedeuten, daß die Sache der erschlagenen Menschen den Vorrang hätte und daß man die noch Lebenden durch einen raschen Frieden beglücken müßte.

Nach gereizten Reden und Gegenreden entschied die Majestät, es solle Friede sein; die Not der Zeit verlange, daß man sich gegen die äußeren Feinde wende, statt sich selbst zu zerfleischen; dem lieben Oheim zu Ingolstadt wäre der Vorwurf nicht zu ersparen, daß er wider Gott, König und Reich gesündigt und vor bayerischen Bäumen den deutschen Wald nicht mehr gesehen hätte; Bayern, das Herz der deutschen Lande, müsse deutscher sein als deutsch; des lieben Oheims großer Ahnherr Ludwig hätte die richtige Glocke aufgehangen; doch sein Enkel hätte ihr mit Hader und Zwist wider die friedlichen Vettern den hallenden Schwengel ausgerissen, daß sie zu einer tauben Schelle wurde; der frevelhaft begonnene Krieg müßte gesühnt werden nach irdischer Gerechtigkeit und nach billigem Anspruch der Sieger; wer sich dem Spruche der Majestät und den Bedingungen des von ihr gebotenen Friedens widersetze, bliebe dem Kirchenbann und der Acht des Reiches verfallen.

Sehr feierlich bekräftigte der päpstliche Legat die Worte des Königs.

Dann verlas der Kanzler Schlick die Bedingungen des Friedens: »Alle Gegner sollen sich vor König und Volk zu christlicher Versöhnung umarmen. Die Gefangenen werden ausgelöst, die noch nicht bezahlten Lösegelder von beiden Seiten erlassen. Was Herzog Ludwig im Kampfe verlor sechs Städte, achtzehn Burgen, sieben Marktflecken und hundertzweiunddreißig Dörfer soll im Besitz der siegreichen Gegner bleiben. Alles übrige Land von Bayern-Ingolstadt soll an den König übergeben werden. Herzog Ludwig soll als Fürst ohne Land und Diener dem König nach Ungarn folgen und unter den Augen der Majestät wider Ketzer und Heiden fechten. Als Verweser des fürstenlos gewordenen Landes bestellt die Majestät den Prinzen Ludwig unter Aufsicht des Ingolstädtischen Hofmeisters Brunorio von der Leiter.«

Die Augen der Herren suchten bei diesem Spruch den mißgestalteten Knaben, der zum Hüter über die Lande seines Vaters gesetzt würde. Er war nicht im Saal.

Durch den Stimmenlärm, der sich zu erheben begann, schrillten die wütenden Worte des Kaspar Törring: »Ei, wie klug! Ei, wie klug! Meine totgeschlagenen Hunde, wenn sie noch lebendig wären, hätten es klüger gemacht.«

Herzog Heinrich, dessen Katzenjammer sich zu mildern schien, sagte lachend zu dem Erbitterten: »Mein guter Kaspar! Es ist von aller Klugheit die beste: Glück haben! Deine gescheiten Hunde litten unter einem unverständigen Mißerfolg.«

Während Törring allen Zorn seiner ehrlichen Jägerseele über den kleinen Herzog ausschüttete, stand Herr Ludwig stumm und bleich inmitten der erregten Fürsten. Langsam streckte sich sein stolzer Körper. Eine wunderliche Heiterkeit erwachte in seinen heißen Augen. Und plötzlich rief er lachend über alle Köpfe hin: »Ihr lieben Kinder! Gehabt euch wohl!« Er wandte sich und verließ den Saal.

Drunten auf der Gasse mußte er sich durch ein dickes Gedräng des Volkes wühlen, um sein Quartier, das Haus der Weltenburger auf dem Haidplatz zu erreichen.

In der großen, fremden Stube, die er betrat, sprangen ihm die zwei braun und weiß gefleckten Törringer Bracken entgegen und hoben sich unter täppischen Zärtlichkeiten zu seiner Brust hinauf. Mit den Armen umschlang er ihre Köpfe und preßte sie an sich: »Ihr Treuen! Wir bleiben beisammen.« Er setzte sich auf das Bett. Die Hunde sprangen an seine Seite und schmiegten sich unter seine Arme.

So saß Herr Ludwig unbeweglich, fast eine Stunde. Unter den Fenstern wogte das Gesumm des Volkes. Und die sonnige Luft war erfüllt vom Geläut der Glocken. Es klangen alle Türme der Stadt. Nur der neue Dom, der noch keinen Turm und keine Glocke hatte, konnte nach außen hin den feierlichen Vorgang nicht verkünden, der sich unter den Spitzgewölben seiner steinernen Riesenhalle vollzog. Hier zelebrierte Kardinal Branda, der päpstliche Legat, vor dem Königspaar und den Fürsten das festliche Hochamt, stimmte zum Danke für den vom Himmel niedergesunkenen Frieden das Tedeum an und predigte nach dem Sanktus wider die böhmischen Ketzer und die moslemitischen Heiden. Während er den begeisterten Gottesstreitern, die für den Feldzug gegen die Hussiten nur sehr bescheidene Hilfstruppen bewilligt hatten, die geweihten Kreuze aus weißer Seide an die Stelle des Herzens heftete, übergab die Majestät das Reichsbanner dem Markgrafen von Brandenburg. Der nahm es, sah den schönen, lächelnden König mit ernsten Augen an und sprach: »Vor Gottes Gesicht muß ein kleiner Mensch sich des eigenen Willens begeben.«

Als der Zug der Fürsten unter Glockengeläut und Bumbardenschüssen den Dom verließ, saß Herzog Ludwig im Haus der Weltenburger noch immer auf dem Bett, mit den Köpfen der Bärenfinder an seiner Brust.

Er hörte nicht, daß die Tür der Stube leise geöffnet wurde. Nur weil die Hunde zu murren begannen, sah er auf. Sein Gesicht entstellte sich. Doch unbeweglich blieb er sitzen und betrachtete den mißgestalteten Landverweser, der in seinem reichen Hofkleid ein Gesicht von sehr üblem Ansehen hatte.

Den Blick des Vaters vermeidend, immer irgendwohin in eine dunkle Ecke guckend, fing Ludwig Höckerlein zu reden an, nicht mehr so sanft, kindlich und demütig wie sonst, doch immer noch mit redlicher Herzlichkeit. In Trauer beklagte er das ungerechte Los des teuren, geliebten Vaters und erbat sich Ratschläge für sein ernstes, schwieriges Amt der Landverwesung.

Herr Ludwig blieb stumm. Er lachte nur.

Der Prinz wurde drängender, sprach von dürren Zeiten, von nötigem Gelde, verglich das verwüstete Land mit einem abgebrannten Acker, der reichlich des frischen Samens bedürftig wäre, und bat den geliebten Vater um Aufklärung über verpfändete Kostbarkeiten und verstecktes Gold.

Da sprang der Herzog auf. Und während er die Hunde, die gegen den Buckligen kläfften, an den Halsbändern festhielt, schrie er dem Sohn ins Gesicht: »Nimm ein Schwert und stich es in mich und sprich, du wollest Geld haben! So lang, bis die Seele mir entfährt, will ich dir antworten: Nichts sollst du haben! Nichts! Nichts!«

Draußen vor der Türe war ein Lärm, als möchte einer den Eintritt erzwingen, den die Diener ihm verwehrten.

Lauschend streckte sich der Herzog, Er schien die Stimme zu erkennen. Freude war in seinen Augen. Und plötzlich schrie er mit aller Kraft seiner Kehle: »Den Treuen steht jede Schwelle offen. Der da kam zu mir, soll eintreten.«

Unter der Tür erschien ein schlanker Jüngling in schwarzem Studentenkleid, das Gewand von einem weiten Ritt verstaubt, mit blassem Gesicht, mit heißer Sorge im Blick. Als er sich vor dem Herzog beugen wollte, faßte ihn Herr Ludwig an den Armen, hielt ihn aufrecht und sah ihn an. »Nicht reden, Liebling! Ein ungeschicktes Wort könnte mir einen wundervollen Augenblick verderben. Weshalb du gekommen bist, das weiß ich. Nur eines sag mir! Ich muß als Fürst ohne Land und Diener dem König nach Ungarn folgen.« Seine Augen dürsteten. »Gehst du mit mir?« Er brauchte nicht auf Worte zu harren, las die Antwort in Wieland Swelhers glänzenden Augen, riß ihn an sich, und während er ihn umklammerte, sagte er ruhig und froh: »Ich hab einen Sohn.«

Stumm, das verzerrte Gesicht wie von Asche überschüttet, ging der Landverweser von Bayern-Ingolstadt mit seinem wippenden Spinnenschritt zur Tür hinaus.

Drunten auf dem Haidplatz klangen die brausenden, alles Glockengeläut übertönenden Jubelstimmen des Volkes, das den funkelnden Zug des Königspaares und der Fürsten unter Zinkenklang und Pfeifengetriller feierlich herankommen sah zum festlich gezierten, von schöner Sonne umwobenen Friedensthron.


Kapitel 25




Auf dem Haidplatz, den die hochgegiebelten und getürmten Häuser der reichen Bürger in buntem Schmuck umgaben, drängte sich Kopf an Kopf.

Wie eine eiserne Mauer standen die fürstlichen Harnischer und die gepanzerten Stadtknechte um die Schranken her und ließen hinter ihren Schultern das Gedräng des Volkes verbranden.

Innerhalb des abgesperrten Raumes war ein Gewirre von Fahnen und Standarten, ein Gewirbel von hundert leuchtenden Farben und ein Gefunkel von blanken Waffen und Edelsteinen.

Als das Königspaar mit dem päpstlichen Legaten den Friedensthron und die Fürsten ihre roten, mit Wappen gezierten Hochsitze schon bestiegen hatten, füllten die Prälaten, die Ritter und Ehrbaren ihre Bänke. Dabei gewahrte Propst Pienzenauer in der ersten Reihe der Söldner einen Harnischer, dem über das braune, ernste Gesicht eine schwere Narbe herunterlief. An dieser Narbe erkannte er ihn wieder. Rasch trat er auf ihn zu und fragte erregt: »Du? Warst du nicht bei Dachau im Gefecht, als der Seipelstorfer den Herzog von Ingolstadt fangen wollte?«

»Wohl, Herr! Da hab ich mitgedroschen.« In die harte Stimme des Söldners kam ein leichtes Schwanken, als er neben dem Fürstpropst den Ritter Someiner stehen sah. »Und ich bin nit weit gewesen, wie Euch ein redlicher Mann unter dem niedergestochenen Gaul herausgezogen hat.«

»Mensch! Weißt du, wer das war?«

»Wohl!« Malimmes vermied es, den Ritter Someiner anzusehen. »Das ist mein guter Herr gewesen, der Richtmann Runotter von der Ramsau.«

»Wo find ich ihn?«

Ein rauhes Lachen. »Da braucht Ihr Euch mit dem Suchen nit plagen. Der ist weiter, als Menschen laufen oder reiten können.« Malimmes sah zur Sonne hinauf. »Wer den Runotter finden möcht, müßt fliegen lernen und höher steigen als ein Isländer Falk.«

Während Herr Pienzenauer erschüttert schwieg, stammelte Lampert Someiner mit heiserem Laut: »Malimmes «

Neben dem Friedensthron begannen die Trompeten zu blasen. Ihr Geschmetter weckte ein dreifaches Echo an den hohen Mauern, und Hall und Widerhall verschmolzen miteinander zu einem rasselnden Tongewirr, das sich anhörte wie das Gelächter eines Riesen.

Nun eine summende Stille.

Auf dem Friedensthron erhob sich die Majestät im funkelnden Prunk der königlichen Würde.

Alle Gesichter der vielen Tausende, der Hohen und Niederen, waren dem schönen, lächelnden König zugewendet. Nur ein einziges nicht, das schmale, rosige Gesichtchen der zierlichen Königin. Die streckte das schlanke Hälslein und lugte hinüber zu den Reihen der Harnischer.

In anmutsvoller Bewegung die beringte Hand erhebend, begann die Majestät mit gutgeschulter, klingender Stimme zu sprechen:

»Ihr meine lieben Oheime und Vettern! Ihr hochgeborenen Fürsten und Herren, die Ihr Beschirmer der Gerechtigkeit und Liebhaber des Guten seid, Ausreuter des Übels, Vertilger von Schande und Laster, eine sichere Zuflucht für alle betrübten, gepeinigten und hilflosen Menschen!«

Die Fürsten blieben ernst, obwohl sie bei dieser Ansprache ein bißchen verwundert dreinguckten. Doch das Volk, das die spottende Heiterkeit flink erfaßte, brach in munteres Ge- lächter aus.

Durch die ganze Rede, die ein blühendes Loblied des Friedens wurde, schwang der König die anmutige Geißel des Spottes, der ihm die Herzen des Volkes eroberte. Und als er den Tausenden gebot, den in die bayerischen Lande heimgekehrten Engel des Friedens mit deutschem Heilruf zu begrüßen, rauschte ihm aus aufgereckten Händen eine brausende Woge der Freude und Begeisterung entgegen.

Noch ehe das frohe, dankende Geschrei verhallte, kam vom Hause der Weltenburger ein wunderlicher, gar nicht festlicher Zug einhergewandert; voraus der land- und dienerlos gewordene Herzog Ludwig, der die beiden Hunde an seinen Gürtel gekoppelt hatte; ihm folgten Kaspar Törring und Wieland Swelher mit zwölf von Ludwigs letzten Getreuen, und sie alle, der Herzog wie die Seinen, waren gleich gekleidet und trugen graue Knechtshosen, graue Bauernkittel und graue Kappen, die mit Marderschwänzen gezottelt waren.

Ein Lachen und Hälserecken im Volk, wie auf allen Bänken der Herren. Und belustigt fragte der König: »Oheim Ludwig? Was soll zu ernster Stunde dieser wunderliche Fasching?«

»Fasching? Nein, Majestät!« Stolz und ruhig hob Herr Ludwig den Kopf. »Das ist Würde und Weihe. Mit diesem grauen Gewande wollen wir die Sieger ehren, die uns in solchen Bauernkitteln bekriegten.«

Über den weiten Haidplatz rann ein Fragen und Schwatzen hin. Und Herzog Heinrich murrte geärgert: »Wollte ich so viel Geld an jeden billigen Spaß vergeuden, so wäre mein Schatzturm bald eine Flohfalle, aus der die gelben Flöhe bis auf den letzten entsprangen.«

Dieser heiteren Minute folgte eine ernste Zeremonie. Während umflorte Kirchenfahnen entschleiert und geknickte Wachskerzen aufgerichtet und entzündet wurden, bliesen dumpfe Posaunen. Würdevolle Spannung lag auf allen Gesichtern. Nur Kaspar Törring war nicht völlig bei dieser ernsten Sache. Immer musterte er die beiden Hunde, die an Herzog Ludwigs Gürtel gekoppelt waren. Und in Erregung flüsterte er gegen das Ohr des Freundes: »Du, Loys, das sind die zwei schönsten aus meinem Zwinger! Ein Rüd und eine Hündin. Die sollen der Welt ein neu Geschlecht erwecken. Fällt von ihnen der erste Wurf, so will ich dabei sein. Ich gehe mit dir nach Ungarn.«

Die feierlichen Posaunen schwiegen, und unter dem Baldachin des Friedensthrones erhob sich der päpstliche Legat, um den Ingolstädter vom Kirchenbanne loszusprechen und als reuige Seele in den Schoß der römischen Mutter zurückzuführen.

Während Herr Ludwig das gebeugte Knie streckte, sprach er mit starker Stimme: »Gott im Himmel wird mich richten nach meinem Herzen, nicht nach der Torheit meiner Fäuste und meines Blutes.« Er ging auf den Markgrafen von Brandenburg zu: »Verzeihe mir! Nach Verdienst belehnte mich die Majestät mit der Narrenkappe. Dich hätt ich erkennen und für mich gewinnen sollen.«

Fritz von Zollern reichte ihm die Hand und sagte lächelnd: »Mich mißversteht man immer. Ich weiß nicht, woher das kommt.«

»Ferne Berge sind den Narren wie Maulwurfshügel.« Und Herr Ludwig wandte sich zu den Herzögen von München: »Wider Euch hab ich schweres Unrecht getan. Wollt Ihr meiner üblen Torheit vergessen?«

Freundlich nickend, bot ihm Herzog Ernst seine schwere Rechte. »Dinge, die geschehen sind, sollen ein Gutes nicht bedrücken, das kommen will. Waren wir keine guten Vettern, so wollen wir's werden. Gelt?«

Schweigend sah Herr Ludwig dem Vetter in das lachende Bartgesicht. Dann wandte er sich, betrachtete den Herzog Heinrich, blieb wie steinern vor ihm stehen und wartete.

Mit langsamen Schritten kam der kleine Herzog näher: »Nach Inhalt des Urteils, das die Majestät gesprochen, bitte ich dich in schuldiger Demut um Verzeihung.«

Herr Ludwig sah die Narben an seinen Händen an und sagte rauh: »Du gibst mir schöne Worte. Wenn es dir wahrhaft leid wäre, müßtest du andere Augen haben.«

Ein feines Lächeln. »Ich habe Augen, wie Gott es wollte.«

Freundlich mahnte die Majestät: »Oheim Ludwig? Wollt Ihr diesem Bittenden nicht vergeben?«

Ruhig sagte Herzog Ludwig: »Ich vergebe ihm nach Form und Seele des Urteils.«

Ein Summen über den Köpfen der Menge. Und von dem goldenen Sessel, der höher war als der rote Stuhl des Königs, segnete der päpstliche Legat die Fürsten und das Volk. Freundlich streckte der Kardinal die Hände nach der Königin, hob sie zu sich empor und küßte sie auf beide Wangen, während der König die Herzöge von Bayern der Reihe nach umarmte. Herzog Ernst umarmte den Ingolstädter, Herzog Heinrich den Brunorio von der Leiter. Der Erzbisdiof von Salzburg und der Bischof von Chiemsee umarmten den Propst des heiligen Zeno. Herr Konrad Otmar umarmte den Fürstpropst Pienzenauer von Berchtesgaden, der heilige Zeno den heiligen Peter. Hauptmann Hochenecher umarmte den Hauptmann Seipelstorfer. Es umarmten sich die Ritter, von denen einer dem anderen die Burg gebrochen hatte. Und es umarmten sich die Bürgermeister von München und Ingolstadt, von Burghausen und Wasserburg, von Landshut und Freising, von Schrobenhausen und Pfaffenhofen, von Traunstein und Rosenheim, von Kufstein und Marquartstein.

Inmitten einer andächtigen Stille wirkte dieses Bild der Versöhnung und christlichen Liebe so ergreifend, daß die Kinder zu beten, die Frauen und Jungfrauen zu weinen begannen. Und plötzlich, in diesem von Andacht und Rührung beträufelten Schweigen, brüllte von irgendwo eine grobe Bauernstimme: »So? So? Nit schlecht! Tut sich da jetzt alles umarmen? Macht alles Fried? Und die Hängmooser Ochsen? Was? Wer nimmt denn jetzt die Hängmooser Ochsen um den Hals?«

Ein Sturm von Heiterkeit brauste nach diesen Worten über den weiten Haidplatz hin.

»Man soll erkunden«, befahl die Majestät, »was dieser Biedere von Uns begehrt!«

Bei der Schranke rief ein Harnischer mit der Stimme eines trompetenden Elefanten: »Das ist der Ramsauer Albmeister. Den Ramsauern ist schweres Unrecht an Kühen und Ochsen widerfahren. Drum will der Albmeister reden mit der deutschen Majestät.«

Während die Königin ein bißchen blaß wurde und trauernde Augen bekam, lachte der König in leutseliger Heiterkeit. »Man soll diesen Braven vor Unser Angesicht führen.«

Unter lustigem Rumor des Volkes und aller Herren brachten die Festordner den langen, mageren Fischbauer vom Hintersee vor den Friedensthron.

Freundlich sagte die Majestät: »Wir hören, du bist der Ramsauer Albmeister.«

»Was denn sonst?«

Ein vergnügtes Gebrüll rings um die Schranken her.

»Und mit dem deutschen König willst du reden?«

»Was denn sonst?«

Wieder dieses schallende Gelächter, während der Albmeister vorsichtig aus einer Blechkapsel ein zerknülltes Pergament herausdrehte.

»Warum willst du reden mit Uns?«

»Weil unsere Ochsen grad so viel Recht haben als wie die anderen. Unsere Ochsen müssen heut auch dabei sein. Was denn sonst? Um unsere Ochsen geht doch der ganze Krieg. Und Recht muß Recht sein. Unser Recht ist verbrieft und gewächsnet.«

Lustig streckten sich tausend Hälse, und der Ramsauer Albmeister machte einen plumpen, komisch wirkenden Fußfall vor der Majestät und reichte ihr das alte Pergament empor, das rot und grau gefleckt war vom Blute des Seppi Ruechsam und vom Sattelschmutz des Marimpfel.

Während das Schwatzen und Kichern in der Menge immer lauter wuchs, sagte der König zu Peter Pienzenauer: »Lieber Neffe von Berchtesgaden! Wollt Ihr Uns dieses wunderliche Rätsel deuten?«

Der Fürstpropst hatte kummervolle Augen. »Herr! In dieser Sache bin ich ein Schuldiger. Da soll einer sprechen, der rein zwischen Recht und Schuld gestanden.« Er winkte dem Ritter Someiner. »Rede, Lampert!«

Vor König, Fürsten und Volk fing Lampert Someiner zu sprechen an. Aus jedem seiner Worte zitterte die tiefe Erschütterung, die ihm die Nachricht vom Tode des Runotter ins Herz geworfen hatte. Doch was er selbst als ein schweres Trauerspiel der Menschheit empfand, das wurde durch den widersinnigen Gegensatz von Ursache und Wirkung für diese tausend in lustiger Neugier Lauschenden zu einer grotesken Lächerlichkeit des Lebens, die keine Träne wecken, nur wilden Hohn oder schallende Heiterkeit erzielen konnte.

Siebzehn Ochsen! Siebzehn Ochsen! Und Volk und Reich geschädigt und zerrüttet, die Zeit zurückgeworfen um Jahrzehnte und bedrückt durch blutende Verluste, weite Länder bis zum Grauen verwüstet, Städte zerstört, Burgen gebrochen, zahllose Dörfer in Asche verwandelt, die Münze verschlechtert, alles Gut entwertet, Arbeit und Handel erdrosselt, hunderttausend Menschen verarmt und viele Tausende erschlagen, erwürgt, erstochen, verbrannt, vergiftet von Seuchen, verfault und verstunken! Und siebzehn Ochsen! Siebzehn Ochsen!

Indes den Haidplatz ein höhnendes Gejohl erfüllte, sagte der König, halb noch lachend, halb bedrückt von einer schreckvollen Schwermut: »Wahrlich! Ein Ochsenkrieg! Um Ochsen begonnen « Weil die Majestät verstummte, fiel das spottende Kastratenstimmchen des Narren ein: »Von Weisen geführt! Und friedsam beschlossen von einem klugen König.« Mit beiden Händen machte der grinsende Narr bei dem Wörtchen >klug< über seinem Kopf eine Bewegung, die von allen, welche sie sahen, sehr heiter gedeutet und mit Gelächter aufgenommen wurde. Auch der König lachte mit. Nicht gerne. Doch gnädig beugte er sich zum Ramsauer Albmeister hinunter und entschied, daß der Friedensvertrag der Fürsten der unterzeichnet und gesiegelt war von einem Kurfürsten, drei Herzögen, einem Erzbischof, einem Bischof, von zwei Pröpsten und zur Zeugschaft von vielen Kirchenfürsten und Baronen noch einen klärenden Nachtrag in causa bovum Hengismosianorum sive Mordaviensium erhalten sollte.

In dieser Klausel wurden die Ramsauer berechtigt, den zu Unrecht niedergebrannten Käser auf Kosten des heiligen Peter von Berchtesgaden neu zu errichten. Und nach Gutdünken und Verstand der Bauern sollten von nun an bis zu ewigen Zeiten an Stelle der Ochsen auch Milchkühe auf dem Hängmoos, nein, in der Mordau grasen dürfen.

So entschied die Majestät. Und der Ramsauer Albmeister sagte stolz und ruhig: »Was denn sonst? Jetzt haben wir's wieder, wie's allweil war. Da hätt's den ganzen Krieg nit braucht.«

Inmitten der Heiterkeit, die den funkelnden Friedensthron umwogte, scholl aus dem Gewühl der Menge ein wilder Schrei, dem ein Gezeter angstvoller Stimmen folgte. Von den Hochsitzen der Fürsten sah man im Gedräng der Leute plötzlich einen leeren, rasch auseinanderfließenden Pflasterfleck. In dieser Leere, die mit jeder Sekunde wuchs, lag ein dicker, reichgekleideter Bürger unter sinnlosen Gliederzuckungen auf dem Boden, mit dem Gesicht gegen die Erde. Und in der Menge, die entsetzt vor ihm zurückwich und sich qualvoll staute, fingen zwanzig, vierzig, hundert, tausend Stimmen zu schreien an: »Der Tod ist in der Stadt! Der schwarze Tod!«

Auf dem Brettergerüst der Fürsten, bei den Bänken der Ritter und Ehrenfesten wie bei den Schranken des gemeinen Volkes, überall begann ein schreiendes oder stumm erschrockenes Drängen und Entweichen. Vor diesem stärksten aller Kriegsfürsten entflohen Sieger und Besiegte, König und Bettler, Weib und Mann, der Greis und die Kinder.

Ein Söldner blieb ohne Schreck. Und ging auf den einsam Gewordenen zu, der in Todesangst und Schmerzen stöhnte. »Höia, du armes Männdl! Fehlt's denn so weit?« Er drehte den Zuckenden herum und sah ein verzerrtes Gesicht, auf dessen fahler Haut ein paar kleine, schwärzliche Pestflecken waren. »Ui, Teufel, Brüderlein, da müssen wir schauen, daß wir zum Medikus kommen!« Mit beiden Armen griff er zu. »Herrgott, Mensch, hast du ein Gewicht!« Während er fester Zugriff, beugte er den Kopf hinunter. »«Wie, sei gescheit! Und nimm mich um den Hals herum! Da trag ich dich leichter.«

Der Stöhnende umarmte den Malimmes, der die Richtung nach dem Sondersiechenhaus vor dem Jakobstore nahm. Wo der hastig Schreitende mit diesem klobigen, in Samt und Seide gewickelten Binkel des Elends erschien, wichen die Menschen zurück.

»Ui, guck!« Malimmes lachte. »Mir macht man die Gassen frei, als ob ich der König wär!«

Prüfend sah er das Gesicht des Kranken an. Der stöhnte nimmer. Die schwärzlichen Flecken auf Stirn und Wangen waren gewachsen, und neue waren dazu gekommen. Und während der schwere Mann mit offenen Augen duselte, spannten sich seine Arme wie eine eiserne Klammer um den Nacken des Söldners.

»Höia, laß luck ein lützel! Du druckst ja ärger als wie ein Hänfener!« Die Klammer, die den Hals des Malimmes umschnürte, wurde nicht linder. Unter dem Druck dieser Arme fiel ihm das Atmen schwer. Doch heiter schwatzte er vor sich hin: »Mir daucht, jetzt kommt der Achte. Vor dem ich mich hüten hätt müssen. Aber ein Rindvieh bin ich allweil gewesen. Und bleib's.« Er machte schnellere Schritte und fing zu keuchen an. In einer Gasse, wo man nicht wußte, was auf dem Haidplatz geschehen war, blieben die Leute stehen und betrachteten in Neugier diesen Flinken mit seiner kostbaren Last. Spottend schrie Malimmes: »Obacht, Leut! Da kommt einer, der ein lützel grob ist.«

Die Leute verstanden nicht und wurden lustig. Malimmes mußte deutlicher werden. »Leut! Da kommt der Tod! Der ist anmaßiger als wie der König, ist mit Kraut und Bratwurst nit zufrieden, frißt die Menschen mit Haut und Haar!«

Nun ging ein dumpfes Geschrei und angstvolles Gerenne vor ihm her. Und Malimmes rief den Springenden nach: »Ein lützel gemütlicher! Auf die Letzt entrinnet ihr ihm doch nit!« Und weil er sah, daß ihm viele voraushopsten zum Jakobstor, schwatzte er mit dem Bewußtlosen, den er trug: »Ei, guck, jetzt haben wir Vorläufer und Melder, wie der Propst vom heiligen Zeno in der Ramsau.« Er lachte. »Bloß ein Trompeter geht uns noch ab!« Mit geblähten Backen, die Lippen aufeinander pressend, begann er in drolligem Trompetenklang das Liedchen der sechs Speckbrocken von Aufham zu blasen:

»Ein Reiter, der wollt pihirschen,
Halerieh halerah fallaaah,
Nach Reechlein nit noch Hihirschen,
Halerieh halerah fallaaah «

Ein tobender Aufruhr war beim Jakobstor. Die vielen, die dem Malimmes vorausgesprungen waren, hatten dem Torwart schon gemeldet, welch einen hohen Herrn man da getragen brächte. Und wie irrsinnig schrien sie: »Das Gatter hinauf! Der muß hinaus! Hinaus! Hinaus!«

Die schwere Balkensperre war schon emporgezogen, noch ehe Malimmes rufen konnte: »Weg frei! Da kommt der Tod!« Im leeren Torbogen hallte sein Schritt. Und dicht hinter seinem Rücken fiel das eisenbeschlagene Gatter mit Gerassel herunter. »So, du! Jetzt sind wir ausgesperrt. Die lassen uns nimmer hinein. Jetzt wartet eine schöne Frau umsonst.«

Vom Jakobstor ein paar hundert Schritte entfernt, stand hinter einer dichten Wand von welkenden Bäumen und Stauden das große Sondersiechenhaus zum heiligen Lazarus.

Malimmes schnupperte. »Mir daucht, da räuchert man einen Dachs aus?« Es roch nach Essig, nach Schwefel und Wacholderqualm. Jetzt brauchte er nimmer zu schreien: »Obacht, Leut! Es kommt der Tod!« Für den heiligen Lazarus war das keine Neuigkeit. Hier war der große Sieger schon lange anwesend. Mit zahlreichem Gefolge. Man hatte von der Holzlände, vom Anger vor dem Ostentor und von den Freiweinbuden des gütigen Königs schon über zweihundert herbeigetragen. Die verdächtigen Taumler hatte man in den Saal der harten Geduld gesperrt, die Kranken in die Bettstuben gebracht, die Stillgewordenen im Garten der Barmherzigkeit versenkt in eine mächtige Kalkgrube. Und als Malimmes mit seiner kühlen, regungslosen Last die Torhalle des schmerzvollen Heiligen erreichte, kam mit dem Söldner zugleich ein Zug von vermummten Bahrenträgern.

Ein Arzt und zwei Wärter, welche lederne Fäustlinge, mit Essig getränkte Leinwandkutten und Gugeln mit kleinen Augenlöchern trugen, mühten sich unter dem großen Kreuz in der Halle vergebens, die starrverkrampften Arme des Sterbenden vom Halse des Söldners loszubringen. »Ich sag's ja! Der laßt nimmer aus. Was ein richtiger Strick ist, reißt nit. Auf der Welt gibt's schlechte Seiler. Da drüben ist einer, der's besser kann.« Gewaltsam mußte Malimmes den Kopf aus dieser unnachgiebigen Schlinge herauszerren. Als er sich aufrichtete, sagte er lachend: »So hart und mühselig bin ich noch nie aus einem Hänfenen herausgeschlupft. Gott soll euch gnädig sein, ihr Leut! Ich geh.«

Da faßte ihn der vermummte Medikus am Arm. »Hab noch ein wenig Geduld, du Lustiger! Wir müssen dich behalten als verdächtig.«

Malimmes nickte. »Ja ja! Ich bin schon all weil so ein verdächtiger Lumpenkerl gewesen, dem man das Übelste hat zutrauen müssen.«

Man führte ihn zu einem dunstigen Raum, in dem es sehr heftig roch. Hier wurde er entkleidet und mit einer Mischung aus Essig und Lauge gewaschen. Er machte dabei so muntere Spaße, daß die Wärter nicht aus dem Lachen kamen. Einer sagte: »Wären alle wie du, so gäb's beim heiligen Lazarus kein Zittern und Grausen."

»Gelt, ja! Die Menschen sind arge Narren. Wie leichter einem das Schnaufen wird, um so mühsamer finden sie's.« Er bekam eine mit Essig getränkte Leinwandkutte, an der eine Gugel mit kleinen Augenlöchern war. »So! Jetzt wird der Kapuziner bald fertig sein. Ein lützel bräuner muß er noch werden.«

Man führte den Vermummten in den Saal der harten Geduld. Hier waren schon an die hundert zugegen, alle in den gleichen, säuerlich duftenden Kutten und Gugeln. Man unterschied da nimmer, was ein Alter oder ein Junger, ein Schmucker oder ein Häßlicher, ein Männlein oder ein Weiblein war. Schweigend saßen und standen die weißen Masken in dem großen Saal umher. Und es war die einzige Regung ihres bedrohten Lebens, daß sie sich gerne an jenen Stellen des Saales hielten, die farbig überglänzt waren von der schönen, durch die hohen Buntscheibenfenster hereinfallenden Nachmittagssonne.

Als der weißvermummte Malimmes in den Saal geschoben wurde, drehten alle anderen Masken die kleinen Augenlöcher gegen die Türe. Mit drolligen Tanzbewegungen kam der neue Bruder des letzten Wartens über die Schwelle gesprungen und begann den gleichen lustigen Rumor, wie damals im Leuthaus der Ramsau. Viele von den Verhüllten guckten ihn schweigend an, einige wurden mißmutig, schalten den übermütigen Gesellen und sprachen von der Heiligkeit des Ortes und von der dunklen Nähe des Todes. Eine der Masken, ein schlankes, flinkes Figürchen, klatschte die Hände ineinander, tat mit junger Stimme einen etwas beklommenen Jauchzer und rief unter frohem Aufatmen: »Dem Herrgott sei Lob und Dank! Gucket, ihr Angstmäuser, da kommt ein Mensch!«

»Gelt, ja? Komm her, du guter Gesell! Wir zwei, wir halten zusammen als lustige Gnoten. Ich wüßt nit, warum ich greinen müßt. Bin ich gesund, so geht's wieder heim ins Leben. Und müßt ich sterben? Gut! So geht's hinauf in die ewige Seligkeit, wo man die Kerzen nit putzen muß, weil sie allweil sauber und ohne Räuber brennen. Komm her, Gesell! Vor uns das Schönste und hinter uns das Liebste! »Warum denn traurig sein in der Mitten?«

Die beiden, von denen der eine aussah wie der andere, ließen sich Seite an Seite in der linden Sonne nieder und begannen ein so munter mit Spaßen durchspicktes Geplauder, daß sie bald einen dicken Zirkel lachender Masken um sich hatten. Auch die von dunklem Grauen durchrüttelten Angstmäuser mußten schließlich unter den weißen Gugeln ein bißchen schmunzeln, kamen näher, lauschten in scheuer Neugier und wurden Menschen, in denen Zuversicht und Hoffnung war.

Als der junge, blasse Priester – der jede dritte Stunde kam, um mit den Verdächtigen zu beten das nächstemal den Saal der harten Geduld betrat und diese heiter schwatzende Gesellschaft fand, war ein ratloser Blick in seinen Augen. Schweigend ging er auf das an die Wand genagelte Kreuzbild zu, ließ sich auf die Knie fallen und begann erregt das Gebet zu sprechen.

Langsam verstummte das Schwatzen und Kichern. Stimme um Stimme fiel in die frommen Worte des Priesters ein, und mit hoch erhobenen Händen beteten die weißen Masken. Jetzt war es anders als bei den früheren Gebeten; da hatte man nur lallende, von Angst erwürgte Laute vernommen; jetzt klangen alle Stimmen hell und ruhig, und in den frommen Worten, die sie sprachen, glühte eine Inbrunst, die so fröhlich wie gläubig war.

Während der junge Priester nach dem Amen rasch den Saal verließ, rief eine weiße Maske den anderen heiter zu: »Ihr lieben Knospen! Nur wieder her zu mir! Jetzt haben wir sauber gebürstete Seelen, da können wir desto lustiger sein. Wir leben noch allweil, gelt? Das Leben ist wie ein fester, gesunder Stier, der an eisernen Strängen zieht. Die reißen nit leicht. Mich hat der Tod schon beim Ohrläppel erwuschen, ich weiß nit, wie oft. Und an den Fingern kann ich's nit auszählen, wie oft mir schon der Hänfene das Zäpfl gekitzelt hat. Und jedsmal bin ich wieder gesund ins Leben gesprungen. Ui, ihr lieben Gnoten, wenn ich das alles erzählen möcht, da tätet ihr lachen müssen.«

Ein heiteres Gedräng, man witterte abenteuerliche Schwänke, setzte sich um den Lustigen her, und hundert Stimmen bettelten: »Erzähl! Erzähl!«

Auf dem Boden in der Sonne hockend, die beiden Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen, fing die weiße Maske zu erzählen an: vom Birnbaum im Ungerland, von der Blitzeiche im Clevischen, vom Schrägen der gescheiten Ulmer, von den Landshuter Wölfen und von der Schlittenfahrt auf dünnem Hosenboden, vom schlechten Reusenstrick des Fischbauern, vom genügsamen Rappenholz, das mehr als ein Dutzend nicht tragen wollte von Herzog Heinrichs ängstlichem Profoßen, der seit dem Tag von Dachau immer hinauf schauen muß zum Himmel, ob da nicht ein gefährliches Ding herunterfällt auf seine irdische Gerechtigkeit, und vom lieben Lendenschnürlein einer schönen Frau, die gerne reich geworden wäre und das unzufriedene Weiblein des Ärmsten unter allen Deutschen hatte werden müssen.

Was das Leben an Ernst und Schmerz in die Wahrheit dieser Geschichten hineingesponnen hatte, verwandelte sich im Saal der harten Geduld zu einer gaukelnden Heiterkeit. Und als das bedrohliche Lendenschnürlein der schönen Frau von Irgendwo entzweigerissen war und die freudige Runde der Lauschenden wieder und wieder was Lustiges hören wollte, begann die unermüdliche weiße Maske immer neue Galgengeschichten zu ersinnen, eine drolliger als die andere. Immer wundersamer stellten sich die Rettungen ein. Beim dreiundzwanzigsten Hänfenen wurde ein Übermütiger, der die für den König gebratenen Würstlein verspeisen wollte, zum unzerreißbaren Strang verdammt; und als er baumelte, kam ein feiner zierlicher Engel vom Himmel heruntergeflogen und brannte mit einem Sonnenstrahl den stählernen Strick entzwei. Der Engel hatte kupferfarbene Löcklein um das zarte Gesicht, hatte Wangen wie rote Äpfel, hatte einen rosenfarbenen Mund und Kinderaugen wie dunkle Kirschen. Und weil die große, vom Baum gefallene Birne sehr lange brauchte, um wieder ein lebendiger Mensch zu werden, beugte sich der liebliche Engel zu dem halb Entseelten hin, der im Gesicht eine große Narbe hatte. Und mit silbrigem Fingerlein strich der Engel ganz leise leis über die Narbe herunter. Da fing die auferweckte Menschenseele zu niesen an und sagte lachend: »Hör auf, liebs Engelein, das kitzelt so schauderhaft, ich halt's nit aus!«

Während die weiße Maske diese aus Sehnsucht, Spott und seltsamer Verzückung gewobene Auferstehungsgeschichte erzählte, ging ein vermummter Arzt im Saal der leicht gewordenen Geduld umher, zog von den heiter Lauschenden einen nach dem anderen auf die Seite, guckte ihm unter die Gugel hinauf und fühlte nach Puls und Herzschlag. Zu jedem Verhüllten sagte er die gleichen Worte: »Sei ohne Sorg! Morgen wirst du heimgehen dürfen!« Dann stellte er sich hinter den Kreis der Lauschenden, die unter den letzten, dünnen Streifen der roten Abendsonne auf dem Boden des Saales hockten. Und prüfend sah er immer die eine Maske an, die mit einer wunderlich sprunghaften Lustigkeit, fast in der taumeligen Art eines Betrunkenen und unter wiegenden Kopfbewegungen erzählte, wie die vom dreiundzwanzigsten Tod erweckte Menschenseele und das wundertätige Engelein miteinander schwatzten. Der Engel wollte die geplagte Seele von der bösen Erde fortlocken und in den Himmel führen. Aber die Menschenseele hatte gegen die ewige Seligkeit allerlei witzige Bedenken.

»Ja, Leut! Und derweil die zwei so plauschen, kommt der Teufel des Wegs, als wär's der Kaplan von Reichenhall. Jöia, Leut, was für ein schiecher Kerl ist das gewesen! Hat einen Schweif gehabt als wie zusammengenäht von siebzehn Ochsen. Nit der Kaplan. Der Teufel! Und hockt sich her zu mir und nimmt das Schweifquästl über den Arm und erzählt mir von der Höll so viel schöne Sachen, daß ich hab denken müssen: >Teufel, da geht's ja zu wie beim Königsmahl im Regensburger Stadthaus!< Aber den Teufel kennt man doch. Nit, Leut? Der lügt als wie ein Burghausener Doppelsöldner, den der Herzog lieb hat. >Geh<, sagt meine schlaue Seel, >fahr ab, du Stinker! In deiner Näh, da schmeckt's, als wie vor dem Regensburger Jakobstor!< Und der Teufel schaut mich an voller Wut und sagt: >Du Feinschmecker, was willst denn du? Mag nit in den Himmel und mag nit in die Höll? Was will denn der?< Und da schreit meine lustige Seel: >Lebendig bleiben!< Wahr ist's, Leut! Und der Seppi Ruechsam tat sagen: Was denn sonst?«

Die Maske hatte das so trunken und drollig herausgesprudelt, daß ihre hundert weißen Brüder lange lachen mußten, ohne recht zu wissen, warum.

Nur einer lachte nicht: der vermummte Medikus. Der legte der weißen Maske, die beim Wort des Seppi Ruechsam mit dem Kopf einen wunderlichen Tunker gegen das Knie gemacht hatte, seine von Leder umhüllte Hand auf die Schulter und sprach: »Du bist gesund. Dich können wir gleich entlassen. Komm!«

»Gelt ja?« Ein langsames Aufrichten mit schweren Gliedern. Auch das war komisch. »Hab mir eh schon gedacht, daß ich bis morgen nimmer warten muß.«

Nun gab's ein klagendes und doch so lustiges Durcheinanderschwatzen, als würde von einer vergnügten Tafelrunde ein Überfröhlicher verfrüht nach Hause geholt. Nur daß man das Küssen und Händedrücken unterließ. Das galt unter dem Dache des heiligen Lazarus als üble Sitte.

Bei der Türe rief die weiße Maske noch lachend über die Schulter: »Auf Wiedersehen, ihr lieben Gesellen! Seid ihr genesen, so treffen wir uns im Bratwursthäusl. Da laß ich allweil ein Dutzend über der Glut halten, daß keiner warten muß, wenn er kommt!«

Hundert heitere Stimmen. Eine Tür fiel ins Schloß. Und während der Scheidende durch die dämmerige Halle taumelte, konnte er vom Saal der Geduld noch immer das Lachen und das heitere Schwatzen der Zurückbleibenden hören. Ruhig fragte er den vermummten Arzt: »Wo steht mein Bett?«

»Nicht weit! Komm, du Tapferer!«

Als man in der Bettstube aus der weißen Gugel den kranken Malimmes herausschälte, hatte der Duselnde schon einen so dichten Schleier vor den Augen, daß er die anderen Betten nimmer sah.

Er fragte in seinem Taumel: »Nächtet's schon?«

Wie aus weiter Ferne antwortete eine milde Stimme: »Nach aller Nacht kommt wieder ein Morgen.«

»So so?« Malimmes schmunzelte.

Nun lag er ausgestreckt auf den feuchten Kissen, dehnte die Glieder, die zu schmerzen begannen, und plauderte ganz leise vor sich hin: »Jetzt, Frau Königin! Wo ist das wundertätige Fingerlein?« Tief atmend schloß er die Augen.

Man wollte ihn aus diesem Dusel noch einmal ermuntern, um die heilige Zehrung auf seine Zunge zu legen.

Er tat die Augen auf, tastete mit den Händen ins Leere und lallte schwer: »Der Bub wo ist denn der Bub «

Dann sprach er nimmer.

Irgendwo läutete eine kleine, dünne Glocke. Die läutete immer, die ganze Nacht hindurch, den ganzen Tag. Manchmal schwieg sie so lange, daß man halb ein Vaterunser hätte beten können. Bis zum Amen wäre man nicht gekommen. So hurtig und ohne Geduld fing ihr leichter, zappliger Schwengel wieder zu tingeln an. Sie läutete, läutete, läutete

Diese Friedensglocke! Der die Aerzte prophezeiten, daß sie bis in den Winter tönen würde.

Am dritten Tage, bekam der heilige Lazarus schon zahlreiche Gäste aus der Stadt, neben Verdächtigen auch solche, über die kein Zweifel herrschte. Doch der Zuzug von der Holzlände und von den Wiesen außerhalb der Mauer versiegte langsam. Vor dem Ostentor war es still und öd geworden. In den leeren Zehrbuden wurde der Freiwein des gütigen Königs in den halbverzapften Fässern sauer. Und auf dem Anger, obwohl da kein Schwertstreich gefallen war, sah es aus wie nach einer grimmigen Schlacht nur mit dem Unterschied, daß kein Mensch die grauen Beutestücke haben wollte, die in schrecklicher Menge umherlagen. Und wenn die Schweine, die hungrig von den Dörfern gelaufen kamen, in dieser herrenlosen Erbschaft wühlten, geschah es manchmal, daß eins von den Tieren umfiel, wie vom Blitz erschlagen.

Die vierzigtausend, die den geliebten König und ersehnten Retter nur auf der Steinernen Brücke gesehen hatten, waren vor dem großen Sieger, dem auch der König wich, in alle Windrichtungen davongelaufen, vermindert um einige Hunderte. Und sie ließen noch auf allen Straßen, am Wegrain und in den Gräben viele Müdgewordene zurück, die über Nacht des Wanderns völlig vergaßen.

Auf den Reisestrecken der Fürsten mußten die Wegmacher vorausreiten, um die Straßen von aller Gefahr zu säubern, die man sehen konnte. Die unsichtbare blieb. Sie lief mit den Laufenden, ritt mit den Reitenden und ließ sich mit den Bequemen in der Sänfte tragen.

Am vierten Tage nach dem Friedensfeste war von allen Fürsten nur Herzog Heinrich noch in der Stadt. Er blieb, weil er nicht reisen konnte. Sein Arzt glaubte, das wäre wieder das alte Fieber mit neuen Erscheinungen. Aber es war nur die Wirkung der abergläubischen Todesangst, die den Herzog in der Stunde befallen hatte, als er aus dem Sondersiechenhaus die Nachricht erhielt, daß sein Hofstaat um den Galgenvogel Malimmes vermindert wäre. Herr Heinrich wand sich in Qualen, die mehr seelischer als körperlicher Art waren und sich durch ein ruheloses Nervenzucken in der Magengrube äußerten. Doch als er von Burghausen die Kunde empfing, daß in seinen Bergwäldern die Hirsche gut zu röhren begännen und daß besonders auf den abgebrannten Waldflächen bei Plaien die Brunft eine selten lebendige wäre, machte seine niedergedrückte Seele einen gewaltsamen Ruck nach aufwärts: »Da muß man genesen! Gott soll's wollen!« Aber er wurde schwächer und elender mit jeder Stunde.

Schließlich begehrte er von seinem Leibarzt: »Hilf mir, wie der selige Malimmes geholfen hat!« Der Medikus war ratlos. Herr Heinrich erklärte ihm die Sache sehr umständlich und genau. Doch als der Leibarzt mit der Handschneide kräftig zuschlug, ging's daneben. Der Herzog purzelte stöhnend über das Bett hin, raffte sich wütend auf und verabreichte dem Medikus eine fürchterliche Maulschelle. Diese Aufwallung des Geblütes erwies sich als segensreich. Wie ein neues Wunder des Malimmes war's. Herr Heinrich konnte am folgenden Morgen zu seinen schreienden Hirschen reisen.

Er reiste mit solcher Hast, daß er an einem schwülen, wolkenschweren Morgen bei Mühldorf den kleinen Reiterzug der Berchtesgadnischen und den Reiseschwarm der Salzburger überholte, die zwei Tage früher von Regensburg aufgebrochen waren.

Gegen Abend drohte vom schwarzgewordenen Himmel ein schweres Oktobergewitter herunterzufallen. Man mußte einen Wolkenbruch besorgen.

Fürst Pienzenauer, der weit hinter den Salzburgischen zurückgeblieben war, beschleunigte die gemächliche Reise, um vor dem drohenden Wasserguß das Städtchen Laufen noch zu erreichen.

Als durch eine Waldgasse schon die Türme und Mauern der kleinen festen Stadt zu erblicken waren, hörte man über die Straße her ein wildes, zorniges Geschrei.

Lampert Someiner jagte voraus und brachte seinem Fürsten die Nachricht, zu Laufen wüßte man schon, daß von Regensburg der schwarze Tod in die Welt liefe; jetzt hätte der Rat von Laufen das Tor gesperrt, gedächte keinen Reisenden in die Stadt zu lassen und hielte mit einem Häuflein von Spießknechten und bewehrten Bürgern die Straße verriegelt; darüber wäre ein Zank zwischen den Salzburgischen und denen von Laufen ausgebrochen und die Streithähne wären schon nahe daran, mit dem Eisen aufeinander loszuschlagen.

»Ein Jammer, Lampert!« klagte Herr Pienzenauer. »Die Menschen mögen nicht lernen. Komm! Da müssen wir Frieden stiften.« Die beiden spornten ihre Gäule. Ehe sie die Stelle erreichen konnten, von der das wüste Geschrei zu hören war, wurde zwischen denen von Salzburg und Laufen schon mit dem Eisen geredet. In der Abenddämmerung gab es Funken. Doch die kleine Straßenschlacht, die da begonnen hatte, war noch zu keinem Toten, nicht einmal zu einem leicht Verwundeten gediehen und nahm mit verblüffender Schnelligkeit ein Ende. Aus dem Himmel fuhr ein Blitz in den Wald herunter, wie ein brennender Baum so dick; ein Donner rasselte, daß die Erde beben mußte; und plötzlich wurde die dunkle Höhe der Lüfte weiß, so weiß wie Schnee. Ein grauenvolles Sausen und Geknatter. Und mit Körnern, die größer als eine Nuß und nicht viel kleiner als ein Hühnerei waren, prasselte der Hagel in dicker Masse auf die erschrockene Welt herunter. Das klang auf den Kürassen und Eisenhüten derer von Salzburg und Laufen, als würde mit tausend harten Löffeln auf tausend blecherne Pfannen getrommelt. Die Gäule wurden scheu, die Knechte zu Fuß begannen wie Narren zu rennen, und immer hörte man die flinkversöhnten Helden schreien: »Au! Au! Au!«

Propst Pienzenauer und Lampert hatten sich mit ihren Rossen in einen Heuschuppen geflüchtet. Durch den weißen Schnürchenvorhang der Hagelkörner sahen sie ein komisches Gezappel von Gäulen und Menschen, die nach allen Richtungen auseinanderstoben. Das war anzuschauen wie der lustige Hohn und Übermut eines Fastnachtspieles.

»Seht nur, Herr«, sagte Lampert Someiner, »der Himmel kann doch das! Warum macht er's nicht immer so, bevor die Menschen zu stoßenden Ochsen werden?«

»Da müßte der Himmel hageln lassen durch Tag und Nacht.« Lächelnd sah der Graubärtige den jungen Gesellen an. »Und der Himmel hat auch Blumen erschaffen. Die wollen Zeit haben, um zu blühen.«

Hinter dem Hagel kamen unter Blitz und Donner noch so schwere Regengüsse, daß es die Schindeln des Heuschuppens diesem Wassersturz nicht verwehren konnten, die zwei Philosophen einzuweichen bis auf die Haut. Fürst Peter sagte: »Komm! Wir wollen reiten. Draußen werden wir auch nicht nässer!«

Sie trabten durch den strömenden Regen. Hinter Laufen fand sich auf dunkler Straße ihr halbes Geleit und ein Trupp der Salzburger mit ihnen zusammen. Erst blieb man stumm. Dann wurde man heiter. Weil alle so lieblich plätscherten, spottete einer über den andern.

Drei Stunden nach Mitternacht, als man Salzburg erreichte, begann der Regen zu versiegen. Sterne guckten durch die ziehenden Nebel, und frischbeschneite Bergspitzen sahen aus, als hätten sie Mondschein.

»Ich will rasten und mich trocken legen!« sagte Fürst Pienzenauer in der Herberg. »In dir ist Ungeduld. Dich will ich nicht halten. Reite voraus!«

Lampert fand keinen höflichen Widerspruch. Er leerte einen Becher Glühwein, genoß einen Bissen und sprang in den Sattel.

Die rein werdende Frühe dämmerte, während er durch die stillen Gassen der Stadt davontrabte. Draußen auf der freien Straße ließ er den Moorle jagen.

Der Pongauer, der bei aller Müdigkeit die nahe Heimat witterte, machte Sprünge, als müßte er einem Sumpf entrinnen und festen Boden finden. Und wurde der Gaul ein bißchen ruhiger, so brauchte der vorgebeugte Reiter, dessen Eisenzeug sich nach dem Regen und bei der frischen Morgenluft in roten Rost zu tauchen begann, nur leise mit der Zunge zu schnalzen. Und der Pongauer stieß mit keuchenden Sprüngen vorwärts.

Die Ache rauschte mit so vielem Wasser neben dem Untersberge her, daß man das Röhren der Hirsche von den Wiesen des engen Tales und aus den steilen Wäldern nur wie ein dumpfes Murren vernahm.

Immer heller wurde der Morgen, immer blauer der klare Himmel.

Um eine dunkle Bergrippe herum, die letzte Wende.

Und der weite herrliche Talkessel von Berchtesgaden tat sich auf mit nebeldampfenden Tiefen, mit einem Kranze rot und gelb gewordener Wälder unter den sammetgrünen Fichtengehängen, mit den weißbeschneiten Almen und den silbernen Zinnen, die sich vor der kommenden Sonne schon in glühendes Gold verwandelten.

Lampert Someiner mußte schreien wie ein Trunkener.

Schmerz und Freude brannten in seiner Seele, in seinem Herzen, in seinem Blut.

Tausende von Menschen waren hinuntergesunken, waren zertreten und zerstampft. Kostbare Werte waren vernichtet, stolze Werke des Lebens lagen zerbrochen, zerbröselt, in Staub zerrieben.

Das schöne, ewige Antlitz Gottes war unverwüstet. Mit dem Brausen seiner Gewässer, mit dem Rauschen seiner Wälder, mit dem Schrei der brünstigen Hirsche und mit dem Schweigen seiner wundervollen Ferne sprach es in Größe und Herrlichkeit das gleiche mahnende Wort wie die kleine, alte Uhr im Hause des seligen Amtmanns Ruppert Someiner.

(Ende des Buchs)

Hinweis:
Es gibt einen Aufsatz im Regensburger Almanach 1991; S. 174 ff
Eberhard Dünninger, eine ganz unsagbar schöne Stadt - Ludwig Ganghofers Regensburger Schulzeit